Schweiz - Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27. April 2017, D-2484/2016

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
27-04-2016
Citation:
BVG, D-2484/2016, 27 April 2016
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
National / Other Legislative Provisions:
Switzerland - Art. 31a(1) lit. b Aslyum Act (Asylgesetz [AsylG])
Switzerland - Art. 105 AsylG
Switzerland - Art. 108(4) AsylG
Switzerland - Art. 76a Foreigners Act (Ausländergesetz [AuG])
Switzerland - Art. 80(2) AuG
Switzerland - Art. 80a AuG
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Headnote: 

Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, dass Ausschaffungshaftanordnungen, bei denen vom alleinigen Vorliegen eines Haftgrundes nach Art. 76a Abs. 2 AuG automatisch auf eine erhebliche Fluchtgefahr geschlossen wird, ohne eine einzelfallbezogene Prüfung der Fluchtgefahr vorzunehmen, rechtswidrig und aufzuheben sind. Das BVG mahnt die gängige Praxis des SEM „unter dem Aspekt der Fairness des Verfahrens in grundsätzlicher Weise als äußerst bedenklich und dringend anpassungsbedürftig“ an.

Facts: 

Der Beschwerdeführer ist ein algerischer Staatsangehöriger, der am 16. März 2016 in der Schweiz Asyl suchte. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) trat mit Verfügung vom 14. März 2016 (eröffnet am 8. April 2016) auf das Asylgesuch nicht ein und ordnete die Wegweisung nach Frankreich sowie die Ausschaffungshaft des Beschwerdeführers für die Dauer von höchstens sechs Wochen an. Von Seiten des SEM wurde die Haft damit begründet, dass der Beschwerdeführer nach einem Asylgesuch in Frankreich am 3. Januar 2014 sich der Wegweisung entziehen wollte und deshalb Frankreich in Richtung Schweiz verlassen hatte und somit die Voraussetzungen des Art. 76a Abs. 2 lit. b AuG erfüllt, wonach Verhalten, was als Widersetzung gegen behördliche Anordnungen aufgefasst werden kann, als ein konkretes Anzeichen dafür zu werten ist, dass sich die Person der Wegweisung entziehen will. Am 8. April 2016 wurde der Beschwerdeführer in Haft genommen.

Gegen die Verfügung vom 14. März 2016 wendet sich der Beschwerdeführer mit der Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht.

Decision & Reasoning: 

Das Bundesverwaltungsgericht (BVG) prüft lediglich die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der Ausschaffungshaft, nicht hingegen die der Ausschaffungshaft zugrundeliegende Wegweisung und deren Vollzug.

Eine solche Inhaftierung richtet sich nach Art. 76a Abs. 1 Ausländergesetz (AuG) und ist nur zu erlassen, wenn im Einzelfall konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass die Person sich der Durchführung der Wegweisung entziehen will, die Haft verhältnismäßig ist und keine milderen Mittel angewendet werden können.

Einwände des Beschwerdeführers, nicht hinreichend und in einer für ihn verständlichen Sprache über die Gründe der Inhaftierung informiert zu sein, weist das BVG zurück. Den Einwand, dass der Beschwerdeführer nicht innerhalb von 96 Stunden mündlich angehört wurde, weist das BVG ebenfalls zurück unter Verweis darauf, dass sich weder aus einfachem Recht noch aus Verfassungsrecht oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Anspruch auf eine mündliche Anhörung in solchen Fällen ableiten lasse.

Das BVG wendet sich dann der Frage der Rechtmäßigkeit der die Haft anordnenden Verfügung zu, insbesondere die Vereinbarkeit mit Art. 76a Abs. 1 AuG. Es wird klargestellt, dass zunächst das Vorliegen eines der in Abs. 2 genannten Haftgründe zu prüfen ist und, sofern dies der Fall ist, muss einzelfallbezogen geprüft werden, ob konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich die betroffene Person der Wegweisung zu entziehen versucht und die Fluchtgefahr erheblich ist. Für den vorliegenden Fall stellt das BVG dann fest, dass die angefochtene Verfügung sich nur sehr kurz mit der Prüfung des Vorliegens eines Haftgrundes beschäftigt und das SEM vom alleinigen Vorliegen von Art. 76a Abs. 2 lit. b AuG automatisch auf eine erhebliche Fluchtgefahr schloss. Dies gab Anlass zur Feststellung des BVG, dass das SEM es versäumt hat einzelfallbezogen die erhebliche Fluchtgefahr zu prüfen. Im Übrigen befand das BVG, dass auch die faktischen Umstände im konkreten Fall gegen die Annahme einer konkreten Fluchtgefahr sprächen, da der Beschwerdeführer deutlich gemacht hat, sich einer Wegweisung nach Frankreich nicht widersetzen zu wollen.

Das BVG ließ offen, ob die Verletzung der Begründungspflicht die Haftentlassung zur Folge hat, mahnte aber an, dass diese Praxis des SEM als „erheblich und systematisch“ zu bezeichnen sei und dementsprechend „äußerst bedenklich und dringend anpassungsbedürftig“ sei. Dabei verweist es auf eine Reihe ähnlicher Entscheidungen, in denen das BVG unzureichend begründete Haftanordnungen beanstandet hat, das SEM aber bislang seine Praxis nicht angepasst hatte.

Im Übrigen sei die Verfügung auch nicht verhältnismäßig, da sich als milderes Mittel etwa die Eingrenzung auf das Gebiet der Asylunterkunft anböte.

Outcome: 

Das Bundesverwaltungsgericht gibt der Beschwerde statt und hebt die Verfügung vom 14. März 2016 insoweit auf, als sie die Anordnung der Ausschaffungshaft betrifft. Darüber hinaus ordnet das BVG an, den Beschwerdeführer ohne jeden Verzug aus der Ausschaffungshaft zu entlassen.

Observations/Comments: 

Verfasst von Chad Heimrich (LLM Student, Queen Mary University of London).

Other sources cited: 

Andreas Zünd, Migrationsrecht – Kommentar, 4th edn. 2015 (Art. 76a AuG) 

Case Law Cited: 

Switzerland - BGer, 1B_30/2014, 31 January 2014

Switzerland - BGer, 2A.170/2002, 4 June 2002

Switzerland - BGer, 2A.611/2003, 30 January 2004

Switzerland - BVG, D-2065/2016, 11 April 2016

Switzerland - BVG, D-2009/2016, 6 April 2016

Switzerland - BVG, D-2011/2016, 5 April 2016

Switzerland - BVG, D-2006/2016, 5 April 2016

Switzerland - BVG, D-1623/2016, 4 April 2016

Switzerland - BVG, D-1963/2016, 1 April 2016

Switzerland - BVG, D-1626/2016, 22 March 2016

Switzerland - BVG, D-2310/2016, 19 April 2016