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Home ›Schweiz - Bundesgericht, Urteil vom 26. April 2017, 2C_1052/2016, 2C_1053/2016
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European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 28
Switzerland -Art. 80a AuG
Switzerland - Art. 10 Abs. 3 Federal Constitution
Switzerland - Art. 25 Abs. 3 BV
Switzerland - Agreement between Switzerland and the European Community on the determination of the competent state for asylum applications
Das Bundesgericht urteilt, dass die gesonderte Inhaftierung von Familien mit minderjährigen Kindern und die Unterbringung der Kinder in einem Kinderheim die Rechte der Eltern auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK verletzt, wenn nicht zuvor mildere Mittel als die Inhaftierung sorgfältig geprüft und in Erwägung gezogen werden.
Die Beschwerdeführenden A.A. und B.A. sind afghanische Staatsangehörige, die gemeinsam mit ihren drei Kindern, über Norwegen und Deutschland in die Schweiz gereist sind und dort ein Asylgesuch gestellt haben. Die Mutter war zudem zum Zeitpunkt der Einreise im achten Monat mit dem vierten Kind schwanger. Das Gesuch wurde vom Staatssekretariat für Migration (SEM) abgewiesen und auch eine gegen die Entscheidung eingelegte Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht war erfolglos.
Die für den 5. Oktober 2016 angesetzte Rückführung der Familie nach Norwegen wurde abgebrochen und die Mutter wurde mit ihrem in der Schweiz geborenen und zu dem Zeitpunkt vier Monate alten Kind im Flughafengefängnis Zürich untergebracht, während der Vater in Ausschaffungshaft in Zug verblieb. Die drei anderen Kinder wurden in einem Kinderheim untergebracht. Am gleichen Tag ordnete das kantonale Amt für Migration gegenüber A.A. und B.A. eine Administrativhaft (so genannte „Dublin-Haft“) zur Sicherstellung des Vollzugs der Überstellung an den zuständigen Dublin-Staat an. Die Beschwerdeführer beantragten beim zuständigen Verwaltungsgericht daraufhin Haftprüfung sowie die Aufhebung der Verfügungen vom 5. Oktober 2016 und umgehende Entlassung aus der Haft. Die Haftrichterin am Verwaltungsgericht bestätigte die angeordnete sechs-wöchige Haft. Am 25. Oktober 2016 wurde die gesamte Familie nach Norwegen zurückgeführt.
Gegen die Verfügungen des Verwaltungsgerichts legten die Beschwerdeführenden Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein. Die Beschwerdeführenden bringen insbesondere vor, in ihren Rechten aus Art. 3, Art. 5 Nr. 1 und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt zu sein.
Das Bundesgericht stellt zunächst fest, dass die Beschwerde nicht aufgrund fehlender Beschwerdelegitimation abzuweisen ist. Die Tatsache, dass die Beschwerdeführenden bereits nach Norwegen zurückgeführt wurden, lässt das Interesse an der Beschwerde nicht entfallen, da die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Erfordernis des aktuellen und praktischen Interesses an der Beschwerdeführung vorliegen. Dies ist der Fall, wenn sich die aufgeworfenen Fragen unter gleichen oder ähnlichen Umständen jederzeit wieder stellen können, eine rechtzeitige Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre und die Beantwortung wegen deren grundsätzlicher Bedeutung im öffentlichen Interesse liegt, was insbesondere auf Rechte aus Art. 3, Art. 5 Nr. 1 und Art. 8 EMRK zutrifft.
Verletzung von Art. 3 EMRK
Das Bundesgericht prüfte, ob die gesonderte Inhaftierung der Familienmitglieder gegen Art. 3 EMRK verstößt. Dieser verpflichtet Vertragsstaaten, in Verbindung mit Art. 1 EMRK, dafür zu sorgen, dass schutzbedürftige Personen wie Familien mit Minderjährigen oder unbegleitete Minderjährige keinen nach Art. 3 EMRK verbotenen Behandlungen ausgesetzt werden. Die Inhaftierung von Kindern in einer nicht kindergerecht ausgestalteten Umgebung kann sowohl die geschützte Rechtsstellung der Kinder verletzen als auch die naher Familienangehöriger der Kinder. Da die Beschwerde zum Bundesgericht allerdings nur von den Eltern erhoben wurde, nicht aber auch in Vertretung für die Kinder, kommt nur eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle der Eltern in Betracht. Das Bundesgericht führt insoweit aus, dass die Inhaftierung der Kinder auch nahe Familienangehörige in ihrer Rechtsposition verletzen kann, wenn, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) folgende Kriterien Berücksichtigung finden: Bestehen einer nahen und schutzwürdigen Beziehung zwischen dem Kind und dem Angehörigen, die Art und Weise wie der Angehörige Zeuge der Behandlung wird und die Reaktion der Behörden auf die Beanstandungen der Familienangehörigen.
Das Bundesgericht erkennt an, dass die Beschwerdeführenden durch die Situation und die eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeit zweifelsohne erheblichem Stress ausgesetzt sind, hält dies aber noch für „knapp“ (Para. 2.4.) unter der Schwelle von Art. 3 EMRK.
Verletzung von Art. 5 Nr. 1 EMRK
Die Beschwerdeführenden rügen zudem, dass kein Haftgrund für die Freiheitsentziehung nach Art. 76a Ausländergesetz (AuG) vorgelegen hätte. Nach der Vorschrift kommt eine Inhaftierung nur in Betracht zur Sicherstellung der Wegweisung in den für das Asylverfahren zuständigen Staat, wenn konkrete Anzeichen vorliegen, dass die Person sich der Durchführung der Wegweisung entziehen will, die Haft verhältnismäßig ist und keine milderen Mittel in Betracht kommen. Art. 5 Nr. 1 lit. f EMRK erlaubt eine Freiheitsentziehung, wenn ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren anhängig ist und die Haft zu dessen Sicherstellung angeordnet worden ist. Im vorliegenden Fall sieht das Bundesgericht es als nicht erforderlich an, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung der Eltern abschließend zu beurteilen, da der Beschwerde ohnehin wegen einer Verletzung von Art. 8 EMRK stattgegeben wurde.
Verletzung von Art. 8 EMRK
Das Bundesgericht führt zu Art. 8 EMRK aus, dass der Schutzbereich, auch bereits im vorinstanzlichen Verfahren, unbestritten eröffnet ist. Während sogar die ausländerrechtliche Inhaftierung von Familien mit Kindern unter besonderen Umständen mit Art. 8 EMRK vereinbar sein kann, bedeutet dies nicht, dass ein Staat sich seinen Verpflichtungen aus Art. 8 EMRK entledigen kann. Im Falle von Kindern unter 15 Jahren, die in ein Heim eingewiesen werden und deren Eltern inhaftiert worden sind, führt der Staat nach Ansicht des Gerichts den Status als unbegleitete Minderjährige selbst herbei und wirkt der Zusammenführung von nahen Familienangehörigen entgegen. Ein solcher Eingriff ist nur dann mit Art. 8 EMRK vereinbar, wenn er der Schranke in Art. 8 Abs. 2 EMRK genügt. Im Rahmen der Interessensabwägung kommt vor allem dem Kindeswohl eine herausragende Bedeutung zu. Dazu muss der Eingriff verhältnismäßig sein, d.h. die Inhaftierung muss die ultima ratio sein und weniger einschneidende Maßnahmen müssen gründlich geprüft werden. Im vorliegenden Fall entschied das Gericht, dass die Vorinstanz nicht ausreichend geprüft hat, ob mildere Mittel als die Inhaftierung der Elter zur Verfügung standen und es verwies auf die Möglichkeit der Unterbringung in kantonseigenen Liegenschaften oder Unterkünften, die von Kanton angemietet wurden, in einem Durchgangsheim oder sogar in einem Jugendheim für unbegleitete Minderjährige. Dementsprechend stellte das Bundesgericht eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, der Beschwerde wurde stattgegeben.
Das Bundesgericht gibt der Beschwerde statt und hebt die angefochtenen Verfügungen des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug von 16. Oktober 2016 auf. Darüber hinaus stellt das Bundesgericht fest, dass die Beschwerdeführenden zu Unrecht in Haft genommen worden sind.
Verfasst von Chad Heimrich (LLM Student, Queen Mary University of London).
Report dated 7 March 2014 on the implementation of Dublin/Eurodac (Botschaft vom 7. März 2014 über die Genehmigung und die Umsetzung der Notenaustausche zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnungen [EU] Nr. 603/2013 und [EU] Nr. 604/2013), BBl 2014 2694
Switzerland - BGer, 2C_459/2011, 26 April 2012
Switzerland - BGer, 2C_745/2010, 31 May 2011
ECtHR - Bozano v. France, Application No. 9990/82
ECtHR - Johansen v Norway, Application No. 17383/90
ECtHR - Jusic v. Switzerland, no 4691/06
ECtHR- Kanagaratnam and others v. Belgium, Application no. 15297/09, 13 March 2012
ECtHR - A.B. and Others v. France, Application no. 11593/12, 12 July 2016
Switzerland - BGer, 2C_681/2015, 2C_682/2015, 20 July 2016
Switzerland - BGer, 2C_207/2016, 2 May 2016
Switzerland - BGer, 2C_25/2009, 5 February 2009
Switzerland - BGer, 2C_598/2013, 22 July 2013
Switzerland - BGer, 2C_823/2009, 19 October 2010
Switzerland - BGer, 1B_329/2009, 11 May 2010
Switzerland - BGer, 2C_983/2012, 5 September 2013
Switzerland - BGer, 2C_415/2011, 3 July 2012
Switzerland - BGer, 2C_806/2012, 2C_807/2012, 12 July 2013
Switzerland - BGer, 1C_380/2007, 19 May 2008
Switzerland - BGer, 1C_3/2007, 20 June 2007
Switzerland - BGer, 8C_70/2010, 20 December 2010
Switzerland - BGer, 2C_269/2009 5. January 2010
Switzerland - BGer, 2C_791/2016, 26 September 2016
Switzerland - BGer, 6B_14/2014, 7 April 2015
Switzerland - BGer, 6B_17/2014, 1 July 2014
Switzerland - BGer, 2C_184/2012, 15 December 2012
Switzerland - BGer, 1C_232/2014, 18 March 2016
Switzerland - BGer, BGE 121 III 306
Switzerland - BGer, 5A_215/2012, 7 May 2012