Schweiz – Bundesverwaltungsgericht, 9. Dezember 2015, E-6261/2015

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
09-12-2015
Citation:
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-6261/2015 vom 9. Dezember 2015
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
National / Other Legislative Provisions:
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 31a(1)(b)
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 107a(2)
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 105
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 6
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 108(2)
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 106(1)
Switzerland - AsylG (Asylum Act) - Art. 8
Switzerland – VGG (Administrative Court Act) - Art. 31-33
Switzerland – VGG (Administrative Court Act) - Art. 37
Switzerland – BGG (Federal Supreme Court Act) – Art. 83(d) No. 1
Switzerland – VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 65(1)
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 5
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 48(1)
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 51(1)
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 49(b)
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 12
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 13
Switzerland - VwVG (Administrative Procedure Act) - Art. 61(1)
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Headnote: 

Das Einholen einer individuellen Garantie über eine kindgerechte und die Einheit der Familie respektierende Unterbringung ist eine materielle Voraussetzung für die völkerrechtliche Zulässigkeit einer Dublin-Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien. Die Individualität der Zusicherung setzt auch deren Aktualität voraus.

Eine Überstellungsentscheidung, die auf einer sechs Monate alten allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden über eine entsprechende Unterbringung und Angabe der in den Regionen Sizilien und Kalabrien hierfür zur Verfügung stehenden Plätze beruht und zudem keine Namens- und Altersangaben der betroffenen Personen enthält, genügt diesen Anforderungen nicht.

Facts: 

Die Beschwerdeführerin ist 2014 mit ihrem Sohn illegal aus Eritrea aus- und über Äthiopien, Sudan, Libyen und Italien in die Schweiz eingereist und stellte dort einen Antrag auf Asyl. Im Rahmen der Befragung zur Person bezüglich eines möglichen Nichteintretensentscheides und der möglichen Überstellung nach Italien machte die Beschwerdeführerin geltend, dass sie mit einem Kind nicht nach Italien zurückkehren könnte.

Nachdem die italienischen Behörden dem Übernahmegesuch des Staatssekretariats für Migration (SEM) zugestimmt hatten, verfügte dieses die Überstellung der Beschwerdeführerin nach Italien sowie deren Vollzug und stellte gleichzeitig fest, dass einer möglichen Beschwerde gegen den Bescheid keine aufschiebende Wirkung zukomme.

Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin beim Bundesverwaltungsgericht die Aufhebung dieser Entscheidung und das SEM anzuweisen, die Behandlung der Asylgesuche fortzusetzen.

Dem Antrag auf Erteilung der aufschiebenden Wirkung hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits zuvor stattgegeben.

Decision & Reasoning: 

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht zunächst seine Zuständigkeit zur endgültigen Sachentscheidung aus Art. 31 VGG iVm Art. 5,32f. VGG  und Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG hergeleitet hat, hält es eingangs fest, dass es bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide des SEM auf die Prüfung der Frage beschränkt ist, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist(vgl. BVGE 2012/4 E.2.2).

Daraufhin widmet es sich der Frage, ob die Entscheidung des SEM, dass die Überstellung der Beschwerdeführerin nach Italien zuverlässig sei, auf einem fehler—oder lückenhaft festgestellten Sachverhalt basierte. Diesbezüglich kommt das Gericht zu dem Schluss, dass das SEM richtiger Weise davon ausgegangen ist, dass es sich bei Italien um den nach der Dublin-III-VO zuständigen Staat handelt, da die italienischen Behörden dem  schweizerische Aufnahmegesuchen zuerst implizit und sodann explizit zugestimmt haben. Zwar erfolgte die Zustimmung außerhalb der 2 Monatsfrist (Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO), dies sei aber unerheblich da mangels Zustimmung auch von der Zuständigkeit Italiens auszugehen wäre (Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO.

Dann überprüft das Bundesverwaltungsgericht die völkerrechtliche Zulässigkeit der geplanten Überstellung der Beschwerdeführerin. Dabei hatte das Gericht zuvor in einem Grundsatzurteil, gestützt auf das Tarakhel-Urteil des EGMR festgehalten, dass vor einer Dublin-Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien von den italienischen Behörden eine individuelle Garantie über die kindgerechte und die Einheit der Familie wahrende Unterbringung einzuholen ist. Eine solche Garantie stelle auch keine bloße Überstellungsmodalität dar, sondern sei materielle Voraussetzung für die völkerrechtliche Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien (vgl. BVGE 2015/4 E. 4.3).

Sie erfordert, dass im Zeitpunkt der Verfügung vom SEM eine konkrete und individuelle Zusicherung – insbesondere unter Namens- und Altersangaben der betroffenen Personen – vorliegt.

Aus der vorausgesetzten Individualität folge ferner, dass die Zusicherung auch aktuell sein muss. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da sich die Entscheidung des SEM auf eine sechs Monate alte  allgemeine Aussage der italienischen Behörden stützt. Dies gilt insbesondere da in der betroffenen Region, in der aufgrund der geografischen Lage von einem regen Betrieb der Aufnahmezentren auszugehen ist. Zudem fehlt es mangels Namensangabe auch an einer ausreichenden Konkretheit der Garantie.

Aufgrund der ungenügenden Zusicherung ist der entscheidungsrelevante Sachverhalt hinsichtlich der Frage, ob die geplante Überstellung mit Art. 3 EMRK vereinbar ist, nicht ausreichend geklärt, weshalb an die Vorinstanz zur weiteren Klärung dieser Frage zurück verwiesen wird.

Outcome: 

Der Beschwerde wird stattgegeben und die Verfügung des SEM vom 22.September 2015 aufgehoben. Die Sache wird zur vollständigen und richtigen Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück gewiesen.

Observations/Comments: 

This case summary was written by Ann-Christin Bölter, an LLM student in Immigration Law at Queen Mary University, London.

The summary was proof read by Ana-Maria Bucataruan, LLM student in Immigration Law at Queen Mary University, London.

Case Law Cited: 

Switzerland – Federal Administrative Court, 27 July 2015, D-4394/2015

Switzerland – Federal Administrative Court, 12 March 2015, E-6629/2014

Switzerland – Federal Administrative Court, 19 September 2012, E‒4324/2012

Switzerland – Federal Administrative Court, 9 Februrary2012, E-6490/2011