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Home ›Schweiz – Bundesverwaltungsgericht, 18. Juli 2016, D-6806/2013
Switzerland – Sections 31
32
33 VGG (Administrative Court Act)
Switzerland – Sections 6
8
105
106
108
111b AsylG (Asylum Act)
Switzerland – Sections 12
29ff.
61
63
64 VwVG (Administrative Procedure Act)
Switzerland – Section 182 StGB (Criminal Code)
Steht in einem Asylverfahren der Verdacht auf Menschenhandel im Raum, muss das Staatssekretariat für Migration (SEM) von sich aus tätig werden und den Sachverhalt umfassend aufklären.
Die Beschwerdeführerin stammt aus Nigeria und stellte 2003 in der Schweiz einen Asylantrag.
Bei der Anhörung gab sie zu ihren Asylgründen an, dass sie ihre Eltern früh verloren habe und dann bei ihrem Onkel lebte, der sie misshandelte und zwangsverheiratete. Vor dem Ehemann, der wie der Onkel Mitglied der Geheimgesellschaft Asigidi war, habe sie sich gefürchtet und deshalb bei einem Pfarrer Hilfe gesucht. Dieser habe sie zum Roten Kreuz nach Lagos gebracht, von wo sie in die Schweiz geflogen wurde.
Das Asylgesuch wurde mit Verfügung vom 01. Oktober 2004 abgelehnt und die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus der Schweiz angeordnet.
Im März 2008 wurde die Beschwerdeführerin wegen Drogenhandels zu einer Bewährungsstrafe von 14 Monaten verurteilt.
Am 09. Oktober 2013 stellte die Beschwerdeführerin ein Wiedererwägungsgesuch und reichte dabei ärztliche Atteste und Berichte zu Missbrauchsfällen in Zusammenhang mit dem sog. Juju-Kult in Nigeria ein. Zur Begründung machte sie geltend, dass sie erstens seit Jahren an einer psychischen Krankheit kombiniert mit einem somatischen Syndrom leide und eine Behandlung in Nigeria nicht gesichert sei. Zweitens sei sie in Nigeria von einem Menschenhändlerring sexuell ausgebeutet worden. Die Personen hätten ihr in einer Zeremonie nach dem Juju-Kult auffällige Narben zugefügt, die sie an die Händler binden und von der Kooperation mit der Polizei abhielten und anschließend zur Zwangsprostitution nach Europa gebracht.
Das Wiedererwägungsgesuch wurde am 05. November 2013 abgelehnt. Begründet wurde dies damit, dass die medizinische Behandlung auch in Nigeria auf vergleichbarem Niveau möglich sei. Zudem bestünden in Nigeria auf Bundes- und Bundesstaatsebene Gesetze, die die Ausübung kultischer Praktiken zur Durchsetzung eigener Interessen verbieten. Die nigerianischen Behörden würden strafrechtlich gegen Zuwiderhandlungen vorgehen.
Mit Datum vom 03. Dezember 2013 erhob die Beschwerdeführerin unter Beifügung ärztlicher und psychotherapeutischer Berichte Beschwerde zum BVerwG.
Das BVerwG untersucht in seinem Urteil umfassend den Zusammenhang von Menschenhandel, Zwangsprostitution und dem Juju-Kult in Nigeria.
Zunächst geht das Gericht in der Urteilsbegründung auf die Rechtsprechung des EGMR ein. Dieser begründet in seinen Urteilen staatliche Schutzpflichten vor Menschenhandel gestützt auf Art. 4 EMRK und fordert ein hohes Schutzniveau. Aus Art. 4 EMRK folge ein Refoulement-Verbot in Fällen von Menschenhandel.
Art. 10 des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 15. Mai 2005 des Europarates fordere von den Staaten, Menschenhandelsopfer zu identifizieren.
Das BVerwG stellt fest, dass Menschenhandelsopfer nur selten von sich aus auf ihre Situation aufmerksam machen oder aufgrund von Einschüchterungen zunächst eine unwahre / widersprüchliche Geschichte erzählen und deshalb von den Behörden als unglaubwürdig eingeschätzt werden.
Daher wurden von verschiedenen Organisationen sog. Indikatorenlisten entwickelt, die die Erkennung von Menschenhandelsopfern durch die Behörden erleichtern sollen.
Das Urteil beleuchtet kurz die Lage in der EU und geht dann auf die Schweizer Situation ein. Hier sei insbesondere eine Sensibilisierung von Behördenmitarbeitern hinsichtlich Menschenhandels erforderlich.
Anschließend stellt das Urteil sehr ausführlich die Lage der Opfer, die Strukturen und Abläufe des Menschenhandels in Nigeria dar: Die mit falschen Versprechungen angeworbenen Nigerianerinnen sind mehrheitlich sehr jung und stammen aus dem Süden des Landes. Sie kommen im Rahmen eines sog. „Emigrationspakts“ nach Europa und müssen dort ihre durch die Reise entstandenen (überhöhten) Schulden durch Prostitution oder Drogenhandel abarbeiten. Die Opfer müssen vorab einen Schwur ablegen, der mittels „Vodoo“- oder „Juju“-Ritualen unter Zufügung von Wunden besiegelt und kontrolliert wird. Dieser beinhaltet die Verpflichtung zum Abtragen der Schulden und ein Schweigegelübde. In Europa werden den Frauen die Pässe abgenommen. Eine „Madam“ kontrolliert und beherbergt die Frauen und nimmt ihnen ihren Lohn ab.
Das Hauptproblem besteht im tief verankerten Glauben an übernatürliche Kräfte und Angst vor den Konsequenzen bei Bruch des Schwurs. Deshalb und aufgrund fehlender Unterstützung bzw. sogar Ablehnung der Familien der Opfer kommt es häufig zum „Re-Trafficking“ – der erneuten Ausreise von nach Nigeria zurückgekehrten Frauen. Wegen des psychischen Drucks durch den Schwur sagen die Betroffenen nicht gegen die Täter aus, was die Aufklärung von Straftaten erschwert.
Im Asylverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Das bedeutet, die Asylbehörde muss den rechtserheblichen Sachverhalt vor ihrer Entscheidung von Amts wegen vollständig und richtig aufklären.
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Behörden dazu, das Vorbringen der betroffenen Personen sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und zu berücksichtigen.
Bei der Beschwerdeführerin gab es diverse Anhaltspunkte dafür, dass sie Opfer von Menschenhändlern ist: Fehlende Identitätspapiere, Herkunft aus dem Hauptrekrutierungsgebiet der Menschenhändler, Reise nach Europa von Drittpersonen organisiert und finanziert, „Juju-Narben“, Misshandlungen bereits als Kind und eine schwere psychische Krankheit. Ungeklärt blieb, ob die Beschwerdeführerin mit Drogen handelte ohne dafür bezahlt zu werden, was wiederum ein Indiz ihrer Opfereigenschaft wäre.
Abschließend stellt das Gericht fest, dass die Vorinstanz den Sachverhalt mangelhaft ermittelt, das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht berücksichtigt und damit den Grundsatz des rechtlichen Gehörs sowie den Untersuchungsgrundsatz verletzt hat.
Antrag stattgegeben; Aufhebung der Verfügung; Rückverweis an Vorinstanz
Diese Zusammenfassung wurde von Ass.-Jur. Lisa-Marie Lührs MLE geschrieben. Sie ist Doktorandin an der Universität zu Köln.
Europarat - Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 15. Mai 2005
Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels vom 15.11.2000 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität („Palermo-Protokoll“)
Richtlinie 2011/36/EU vom 05. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer
European Migration Network, Synthesis Report – Identification of victims of trafficking in human beings in international protection and forced return procedures, March 2014
Group of Experts on Action against Trafficking in Human Beings (GRETA), Report concerning the implementation of the Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings by Switzerland, 14 October 2015
ECtHR – M. and others v. Italy and Bulgaria, 31 July 2012, 40020/03
ECtHR - V. F. v France – Application No. 7196/10
ECtHR - C.N. v. United Kingdom, no 4239/08
ECtHR - O.G.O. v. the United Kingdom (no. 13950/12), 18 February 2014