ECRE is currently working on redeveloping the website. Visitors can still access the database and search for asylum-related judgments up until 2021.
You are here
Home ›Germany - Administrative Court of Minden, 2 October 2015, case no. 10 L 923/15.A
Council of Europe Instruments > EN - Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms > Article 3
European Union Law > EN - Dublin II Regulation, Council Regulation (EC) No 343/2003 of 18 February 2003
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union > Article 4
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union > Article 18
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 2
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 3
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 17
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 38
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 39
Germany - Code of Administrative Court Procedure - Art 113(1)(1)
Germany - Code of Administrative Procedure - Art 166
Germany - Code of Civil Procedure - 114
Germany - Code of Civil Procedure - 121(2)
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 26a
Germany - Asylum Procedure Act - Art 34a
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 77(1)
Germany - Asylum Procedure Act - Art 36
Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes überwiegt das Interesse des Antragstellers, von der Abschiebung in einen Mitgliedsstaat der EU einstweilen verschont zu bleiben, wenn aufgrund jüngerer Entwicklungen der Rechtslage und der Umstände vor Ort nicht mehr garantiert werden kann, dass dem Betroffenen dort ein angemessenes Asylverfahren geboten wird (Ungarn).
Der Antragsteller unbekannter Herkunft hat angegeben, über Griechenland und Serbien nach Ungarn eingereist zu sein und von dort seine Reise nach Deutschland fortgesetzt zu haben.
Am 22.08.2015 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Antragsteller mittels Bescheid eine Abschiebungsanordnung nach Ungarn zukommen lassen. Hiergegen richtet sich der Antragsteller zunächst im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Das Gericht stellte fest, dass aufgrund aktueller Erkenntnisse ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-Verordnung für Ungarn zurzeit erfüllt sind. Dieser Norm zufolge ist eine Abschiebung nicht möglich, wenn wesentliche Gründe für die Annahme sprechen, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Aufnahmestaat derzeit „systemische Mängel“ aufweisen. Diese „systemischen Mängel“ müssen für den Antragsteller die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („CGEU“) bzw. des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention („EMRK“) mit sich bringen.
Im Rahmen der Maßstabsbildung erläutert das Gericht, dass „systemische Mängel“ strukturell bedingte, größere Funktionsstörungen darstellen, die in jedem Schritt des Verfahrens angelegt sein können. Unerheblich sind tatsächliche Erfahrungen des Antragstellers; diese sind vielmehr im Rahmen der Gesamtwürdigung einzubeziehen. Systemische Mängel sind zum einen solche, die bereits im Asyl- und Aufnahmeregime angelegt sind, also nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft auftreten. Zum anderen können auch tatsächliche Umstände ein theoretisch sachgerecht konzipiertes Asyl- und Aufnahmesystem außer Kraft setzen. Schließlich ist die Zahl der betroffenen Asylbewerber nicht entscheidend, soweit sich der Mangel nur vorhersehbar und regelhaft realisiert.
Eine „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ nach Artikel 4 CGEU liegt insbesondere dann vor, wenn sich Asylbewerber, die vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen sind, im Angesicht ernsthafter Entbehrungen und Not behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber sehen. Hier ist nicht so sehr auf die Rechtslage, als vielmehr auch auf deren Umsetzung in der Praxis abzustellen.
Im Rahmen der Subsumtion geht das Verwaltungsgericht zunächst auf die ungarische Gesetzesänderung vom 1. August 2015 ein. Aufgrund dieser Gesetzesänderung besteht nun die Gefahr, dass der Antragsteller ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Standards nach Serbien, Mazedonien oder Griechenland abgeschoben wird. Die Asylsysteme all dieser Staaten sind jedoch ebenfalls mangelhaft. Diese Gefahr der Kettenabschiebungen verstößt gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 CGEU i.V.m. Art. 33 Abs. 1 Flüchtlingskonvention von 1951.
Zweitens liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass bestimmten Gruppen von Asylbewerbern im Falle der Ablehnung des Asylantrags in Ungarn kein effektiver Rechtsschutz gewährt würde. Das ungarische beschleunigte Verwaltungsverfahren sieht nun eine Klagefrist von drei Kalendertagen vor. Allerdings reicht eine kurze Frist alleine noch nicht aus, um einen effektiven Rechtsschutz zu verneinen, vielmehr sind sämtliche Voraussetzungen der Klageerhebung zu würdigen.
Drittens liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Haftgründe speziell für Asylbewerber durch die Gesetzesänderung wesentlich ausgeweitet wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass künftig wieder alle Asylbewerber für die Dauer des Verfahrens eingesperrt werden, wie dies bis 2012 der Fall war.
Schließlich liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die ungarischen Behörden zurzeit keine angemessene Versorgung der Asylbewerber garantieren können. Aus dem bestehenden Missverhältnis zwischen den im ersten Halbjahr 2015 in Ungarn gestellten Asylanträgen (67.000) und den knapp 2.500 Aufnahmeplätzen ist allerdings nicht ohne Weiteres auf einen gravierenden Kapazitätsengpass zu schließen. Asylbewerber betrachten Ungarn oftmals nur als Transitland.
Aufgrund dieser Feststellungen hat das Gericht dem Antrag stattgegeben und die aufschiebende Wirkung angeordnet.
Die Klärung, ob alle diese Punkte im konkreten Fall zutreffen, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Antrag stattgegeben. Aufschiebende Wirkung angeordnet.
Das Hauptsacheverfahren wird beim VG Minden unter dem Az. 10 K 2299/15.A geführt.
This case summary was completed by Linklaters LLP.
Amnesty International, Europe’s Borderlands, Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, July 2015
Asylum Information Database (aida), Country Report Hungary, 17.09.2015
Asylum Information Database (aida), Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries, 30.07.2015
Budapest Beacon, Hungary’s Vamosszabadi refugee camp dangerously overcrowded, 25.07.2015
Budapest Beacon, Migration aid needs food, blankets and foam mattresses, 19.08.2015
European Asylum Support Office (EASO), Description of the Hungarian asylum system, 04.06.2015
Frankfurter Allgemeine Zeitung (German newspaper), Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf, 24.06.2015
Hailbronner, Ausländerrecht (Annotations to German asylum law provisions), Vol. 3, June 2014, § 34a AsylVfG para. 21
Hungarian Helsinki Committee, Hungarian government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation, 04.03.2015
Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence – Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 07.08.2015
Süddeutsche Zeitung (German newspaper), Ungarn relativiert Aufnahmestopp für Asylsuchende, 24.06.2015
Süddeutsche Zeitung (German newspaper), Ungarn schottet sich ab, 23.07.2015
UNHCR (UN High Commissioner for Refugees), UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, 03.07.2015
UNHCR (UN High Commissioner for Refugees), Serbia as a country of asylum, August 2012
Die Welt (German newspaper), Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, 24.06.2015
Die Welt (German newspaper), Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, 06.07.2015
Statistics on asylum applications in Hungary: http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1 & language=de&pcode=tps00189&plugin=1 (last accessed 21.08.2015)
Germany - Administrative Court Köln, 08.09.2015 – 18 K 4584/15.A
Germany - Federal Administrative Court, 31.01.2013 – 10 C 15.12
Germany - Administrative Court Trier, 18 September 2013, 5 L 1234/13.TR
Germany - Administrative Court Kassel, 07.08.2015 – 3 L 1303/15.KS.A
Germany - Administrative Court Münster, 07.07.2015 – 2 L 858/15.A
Germany- Federal Administrative Court, Decision dated 19.3.2014 – 10 B 6/14
Germany - Federal Administrative Court, Decision dated 6.6.2014 – 10 B 35/14
Germany - Higher Administrative Court Baden-Württemberg, 10.11.2014 – A 11 S 1778/14
Germany - Administrative Court Düsseldorf, 20.08.2015 – 15 L 2556/15.A
Germany - Administrative Court Regensburg, 29.04.2014 – RO 4 K 14.50022
Germany - Administrative Court Darmstadt, 09.05.2014 – 4 L 491/14.DA.A
Germany - Administrative Court Düsseldorf, 17.07.2015 – 8 L 1895/15.A
Germany - Administrative Court München, 17.07.2015 – M 24 S 15.50508
Germany - Administrative Court Potsdam, 20.07.2015 – VG 6 L 356/15.A
Germany - Administrative Court Kassel, 24.07.2015 – 6 L 1147/15.KS.A
Germany - Administrative Court Augsburg, 03.08.2015 – Au 5 K 15.50347
Germany - Administrative Court Saarlouis, 05.08.2015 – 3 L 633/15
Germany - Administrative Court Frankfurt/Oder, 07.08.2015 – VG 3 L 169/15.A