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Home ›Deutschland - Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 25. Oktober 2006, A 3 S 46/06
European Union Law > EN - Qualification Directive, Directive 2004/83/EC of 29 April 2004 > Art 4 > Art 4.4
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Den Angehörigen einer Familie von aus Tschetschenien stammenden russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Volkszugehörigkeit, bei der ein Familienmitglied (hier: die Ehefrau) einen neuen russischen Inlandsplatz besitzt und damit eine wichtige Registrierungsvoraussetzung erfüllt, steht regelmäßig eine im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG i.V.m. Art. 8 Qualifikationsrichtlinie (QRL) zumutbare inländische Fluchtalternative in Gebieten außerhalb Tschetscheniens offen. Ob dieser Personenkreis in Tschetschenien einer (regionalen) Gruppenverfolgung unterlag oder unterliegt, kann daher offen bleiben.
Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Sie hatten vor ihrer Ausreise in Tschetschenien gelebt. Sie reisten im Januar 2004 nach Deutschland ein und beantragten die anerkennung als Flüchtlinge. Die Klägerin zu 2) legte einen im Mai 2003 ausgestellten russischen Inlandspass vor, der Kläger zu 1) hatte keine Papiere. Die Anträge wurden mit Bescheid vom 18.5.2005 lehnte die Behörde die Anträge ab. Hiergegen reichten sie Klage ein. Mit Urteil vom 05.10.2005 hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe der Klage stattgegeben und die Behörde verpflichtet, die Kläger als Flüchtlinge anzuerkennen. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass die Kläger zwar nicht individuell vorverfolgt ausgereist seien, aber die Kriegsführung der russischen Seite im und seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg sowie die Übergriffe der in Tschetschenien stationierten russichen Streitkräfte und der pro-russischen Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung als Gruppenverfolgung anzusehen seien. Eine inländische Fluchtalternative stünde den Klägern nicht zur Verfügung, da sie in den übrigen Teilen der Russische Föderation nicht registriert würden und somit in eine ausweglose Lage gerieten.
Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kommt nach nationalem Recht wie nach der RL 2004/83/EG ein herabgestufter Verfolgungsmaßstab zugute.
Der Senat unterstellt zugunsten der Kläger, dass sie vor der Ausreise aus Tschetschenien dort von einer derartigen Verfolgung in Form einer regionalen Gruppenverfolgung betroffen waren.
Ein Anspruch auf Flüchtlingschutz scheidet allerdings aus, da ihnen eine zumutbare inländische Flüchtalternative in anderen Landesteilen Russlands zur Verfügung stünde.
Nach Art. 8 Abs. 2 QRL kommt es auf die am Ort des internen Schutzes bestehenden "allgemeinen Gegebenheiten" und zusätzlich auch auf die "persönlichen Umstände" des Asylsuchenden an. Zur Interpretation des Begriffs der persönlichen Umstände kann auf Art. 4 Abs. 3 Buchst. c QRL zurückgegriffen werden, wonach die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Asylsuchenden einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, zugrunde zu legen sind. Zu fragen ist sodann, ob von einem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich am Ort der internen Fluchtalternative aufhält.Erforderlich hierfür ist, dass er am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Dies entspricht im Kern der geltenden Rechtsprechung. Nach den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich dann, wenn sie dort durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den regelmäßig zumutbaren Arbeiten gehören dabei auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können. Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine kriminelle Arbeit ist dagegen nicht zumutbar. Maßgeblich ist grundsätzlich auch nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde. Gemessen an diesen Grundsätzen ist es den Klägern zuzumuten und kann von ihnen daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie ihren Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nehmen, an dem sie vor Verfolgung sicher sind un wo ihr soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gewährleistet ist.
Zur Überzeugung des Senats wird es der Klägerin zu 2, die im Besitz eines neuen gültigen russischen Inlandspasses ist, gelingen, in tschetschenischen Siedlungsgebieten (z.B. im Gebiet Rostow, in der Wolgaregion, in Nordossetien und in Karatschajewo-Tscherkessien) Wohnraum für sich und ihre Familie zu erlangen und damit grundsätzlich die geforderten Rechtsvoraussetzungen für eine Registrierung zu erfüllen.
Trotz aller Schwierigkeiten, vor die sich die Angehörigen der tschetschenischen Volksgruppe bei Registrierungen gestellt sehen, ist eine Registrierung in vielen Landesteilen möglich, wenn auch oft erst nach Intervention von Nicht-Regierungsorganisationen, Duma-Abgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung. Bei ihren diesbezüglichen Bemühungen kann die Klägerin zu 2 auch auf die Unterstützung ihres Ehemannes zählen. Auch wenn dieser selbst über keinen gültigen Inlandspass verfügt und damit die Registrierungsvoraussetzungen für seine Person nicht erfüllt, wird es ihm gelingen, in der stark männlich dominierten tschetschenischen Diaspora Wohnraum zu organisieren und für sich selbst auch ohne eigene Registrierung zumindest in der so genannten "Schattenwirtschaft" eine Arbeit zu finden, die es ihm ermöglicht, das wirtschaftliche Existenzminimum für sich und seine Familie zu sichern. Darauf, ob er sich selbst registrieren lassen kann - wofür mangels eines gültigen Passes wenig spricht - und ob es ihm zumutbar wäre, zunächst nach Tschetschenien zurückzukehren, um sich einen neuen Pass zu beschaffen, kommt es vorliegend nicht an.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe wurde abgeändert und die Klage abgewiesen.
Nicht bekannt.
Das OVG Sachsen-Anhalt (Urt. v. 31.3.2006 – 2 L 40/06 -) vertritt die Aufassung, dass nur ein legaler Aufenthalt zumutbar sei.
CJEU - C-148/78 Ratti
Germany - Federal Administrative Court, 17 May 2005, 1 B 100/05
Germany - Federal Administrative Court, 31 August 2006, 1 B 96/06
Germany - High Administrative Court Sachsen-Anhalt, 31 March 2006, 2 L 40/06