Deutschland - Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 25. März 2010, A 2 S 364/09

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
25-03-2010
Citation:
A 2 S 364/09
Additional Citation:
asyl.net/M16872
Court Name:
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
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Headnote: 

Bestätigung eines Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung eines Kurden aus dem Irak. Selbst bei Annahme eines bewaffneten Konflikts in der Heimatprovinz des Klägers (Tamim) kann nicht angenommen werden, dass der Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region ernsthaften individuellen Bedrohungen ausgesetzt ist.

Facts: 

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er beantragte im Jahr 2001 in Deutschland Asyl und erhielt im April 2001 den Flüchtlingsstatus zugesprochen. Im Juni 2005 wiederrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Flüchtlingsstatus, da die Verfolgungsgefahr nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins entfallen sei. Anderweitiger Schutz wurden ebenfalls nicht gewährt, da die allgemein schlechte Sicherheits- und Versorgungslage eine allgemeine Gefahr darstelle, aber keine extreme individuelle Gefahrenlage begründe.

Der Kläger klagte gegen den Widerruf. Aufgrund der Klage hob das Verwaltungsgericht Sigmaringen im Mai 2007 den Widerruf auf. Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass ein Widerruf nur zulässig sei, wenn eine Verfolgungsgefahr im Sinne von § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (Flüchtlingsstatus) mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Auch nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein könne es nicht ausgeschlossen werden, dass Anhänger dieses Regimes weiterhin eine Bedrohung für den Kläger darstellen könnten. Gegen diese Bedrohung könnten weder die irakischen Sicherheitskräfte noch die internationalen Streitkräfte Schutz bieten.

Die Behörden wandten sich an den Verwaltungsgerichtshof, um eine Aufhebung dieser Entscheidung zu erreichen. Der Verwaltungsgerichtshof erklärte die Berufung für zulässig.

Decision & Reasoning: 

Die Aufhebung der behördlichen Entscheidung durch das Verwaltungsgericht erfolgte zu Unrecht, da der Widerruf des Flüchtlingsstatus rechtmäßig erfolgte. Die behördliche Entscheidung ist auch hinsichtlich der Feststellung zutreffend, dass die Voraussetzungen für anderweitigen Schutz gem. § 60 Aufenthaltsgesetz nicht vorliegen.

i) Da das Regime Saddam Husseins seine Macht über den Irak unumkehrbar verloren hat, besteht für den Kläger keine Verfolgungsgefahr aufgrund seiner behaupteten politischen Aktivitäten oder aufgrund seiner illegalen Ausreise aus dem Irak oder wegen der Asylantragstellung im Ausland.

Es droht auch nicht aus anderen Gründen relevante Verfolgung (im Sinne des § 60 (1) Aufenthaltsgesetz, Flüchtlingsdefinition). Das Verwaltungsgericht hat zwar angenommen, dass der Kläger ein “exponierter Kritiker” des Regimes Saddam Husseins gewesen sei. Diese Annahme wird jedoch weder durch die Angaben des Klägers gestützt, noch hat das Verwaltungsgericht die Glaubwürdigkeit dieser Angaben überprüft. Das Verwaltungsgericht hat nicht erklärt, welche Gründe die Anhänger des ehemaligen Regimes haben sollten, gegen den Kläger vorzugehen.

ii) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 (7) Aufenthaltsgesetz. Insbesondere hat er keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz bzw. Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie.

Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz/Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie ist unter Berücksichtigung des Völkerrechts auszulegen. Danach müssen die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie u.a. für  Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind, und über Situationen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Taten hinausgehen. Bei innerstaatlichen Konflikten, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, kann die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Der Konflikt muss aber ein bestimmtes Maß an Dauerhaftigkeit und Intensität aufweisen (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Juni 2008, 10 C 43.07).

Hiervon ausgehend dürfte die gegenwärtige Situation im Irak nicht die Annahme rechtfertigen, dass im Irak ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Die Frage kann jedoch auf sich beruhen, da selbst bei Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts subsidiärer Schutz nur dann zu gewähren ist, wenn eine erhebliche und individuelle Gefahr “im Rahmen” des bewaffneten Konflikts besteht. Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juli 2009 (10 C 9.08) ist es möglich, dass eine erhebliche individuelle Gefahr auch ein einer außergewöhnlichen Situation eintreten kann, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit im betreffenden Gebiet der Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Ein solch hoher Gefahrengrad lässt sich jedoch für die Heimatprovinz des Klägers, Tamim, nicht feststellen.

Auf der Grundlage verschiedener Quellen (u.a. der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2009), kann festgestellt werden, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor verheerend ist. Um jedoch den sich aus dieser Situation ergebenden Gefahrengrad abschätzen zu können, muss die Zahl der Opfer von Anschlägen in Relation zu der Zahl der gesamten Bevölkerung des Irak gesetzt werden. Das Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zitiert einen Bericht der britischen Nichtregierungsorganisation Body Count, demzufolge die Zahl ziviler Oper im Jahr 2009 auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2003 gefallen ist. In der Provinz Tamim habe es 99 Anschläge mit 288 Toten gegeben. Daraus folgt, dass es 31,9 Tote je 100.000 Einwohner gab, wenn die Einwohnerzahl der Provinz auf 900.000 geschätzt wird, bzw. 25,5 Tote je 100.000 Einwohner, wenn die Einwohnerzahl auf 1.130.000 geschätzt wird.

Demach kann selbst bei Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Provinz Tamim nicht davon ausgegangen werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.

Outcome: 

Der Beschloss des Verwaltungsgerichts wird aufgehoben, womit zugleich der Widerruf des Flüchtlingsstatus durch die Behörden bestätigt wird.

Subsequent Proceedings : 

Keine (Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wird nicht zugelassen)

Observations/Comments: 

Case available at Informationsverbund Asyl & Migration, Ref. No: asyl.net/M16872