Deutschland -Verwaltungsgericht Potsdam, 04. September 2015, Az: 4 L 810/15.A

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
04-09-2015
Citation:
Beschluss vom 04.09.2015, Az. 4 L 810/15.A
Court Name:
Verwaltungsgericht Potsdam
Relevant Legislative Provisions:
International Law
International Law > 1951 Refugee Convention
Council of Europe Instruments
European Union Law
Council of Europe Instruments > ECHR (Frist Protocol)
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation)
National / Other Legislative Provisions:
Germany - Code of Administrative Court Procedure - Art 80(5)
Germany - Code of Administrative Court Procedure - Art 154(1)
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 27a
Germany - AsylVfG (Asylum Procedure Act) - § 34
Germany - AsylfG (Asylum Procedure Act ) - 80
Germany - AsylVfG (Asylum Procedure Act) - 83b
AsylVfG (Asylum Procedure Act) - 75(1)
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Headnote: 

Das Interesse eines Antragstellers, von der Abschiebung aus Deutschland in einen anderen EU-Mitgliedsstaat einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt, wenn (bspw. aufgrund erheblicher Kapazitätsprobleme und einer Änderung des Asylrechts) in dem anderen EU-Mitgliedsstaat mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.

Facts: 

Der Antragsteller hat die afghanische Staatsangehörigkeit. Am 19. März 2015 hat er einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Davor hatte er bereits am 21.01.2015 in Ungarn Asyl beantragt.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge („Bundesamt“) hat sowohl Ungarn als auch Bulgarien um Übernahme des Falls gebeten. Das Gericht machte keine Ausführung zu dem Übernahmegesuch an Bulgarien

Die ungarische Einwanderungsbehörde hat mit Schreiben vom 26. Mai 2015 erklärt, dass sie die Prüfung des in Ungarns  vorgebrachten Asylantrags übernehme. Infolgedessen hat das Bundesamt am 11. Juni 2015den Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet. Das Bundesamt hat den Bescheid auf § 27a und § 34a AsylVfG gestützt.

Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes hat der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht Potsdam erhoben.

Der Antragsteller hat auch einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. 

Decision & Reasoning: 

Das Gericht befasst sich zunächst mit der Frage, ob die ungarische Einwanderungsbehörde überhaupt zuständig ist. Die Zuständigkeit kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, weil das Bundesamt auch Bulgarien um Übernahme gebeten hat, obwohl der Antragsteller ursprünglich in Ungarn Asyl suchte. Die Frage wird aber im Ergebnis offen gelassen, da jedenfalls die angeordnete Abschiebung nach Ungarn nach derzeitigem Sach- und Streitstand rechtswidrig sei.

Das Gericht beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage, ob das Asylverfahren in Ungarn frei von systemischen Mängeln ist. Entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung verneint das Gericht dies aufgrund folgender Erwägungen:

·                Zum einen habe Ungarn erhebliche Kapazitätsprobleme, die massiver seien als in anderen europäischen Staaten. Das Gericht untermauert diese Ansicht mit mehreren Verwaltungsgerichtsentscheidungen (Verwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 12.08.2015 – L 776/15; Verwaltungsgericht Kassel, Beschluss vom 07.08.2015 – 3 L 1303/15.KS.A; Verwaltungsgericht Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A), die zum gleichen Ergebnis finden.

·                Am 06. Juli  2015 hat die ungarische Regierung eine Änderung des Asylrechts beschlossen, die am 01. August  2015 in Kraft getreten ist. Danach werden die Asylverfahren verkürzt mit der Folge, dass die gebotenen Rechtsschutzmöglichkeiten entfallen bzw. massiv eingeschränkt werden. Des Weiteren können illegal eingereiste Asylsuchende, einschließlich Frauen und Kinder, noch länger inhaftiert werden. Darüber hinaus kann der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt werden, wenn die Asylsuchenden aus einem von den ungarischen Behörden als sicher eingestuften Land einreisen. Zu den „sicheren Drittstaaten“ gehören Serbien, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Griechenland. Es sei somit denkbar, dass der Antragsteller bei einer Rückführung nach Ungarn ohne hinreichende Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit nach Griechenland abgeschoben wird. Dies stelle eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar. Ferner sei auch der UN High Commissioner for Refugees zutiefst besorgt, dass die Gesetzesänderung in Ungarn die Rücksendung von Asylbewerbern in potentiell unsichere Drittstaaten ermögliche.

·                Schließlich seien auch die Äußerungen der rechtsnationalen Regierung Ungarns zu berücksichtigen, durch die ein Klima geschafften werde, dass die Lage der Flüchtlinge weiter drastisch verschärfe.

Aufgrund dieser tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse nimmt das Gericht – unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung – an, dass dem Antragsteller bei einer Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Das Gericht hält den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung für zulässig und begründet.

Outcome: 

Antrag stattgegeben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 11.06.2015 wird angeordnet.

Subsequent Proceedings : 

Das Hauptsacheverfahren wird beim Verwaltungsgericht Potsdam unter dem Az: 4 K 1553/15.A geführt. 

Observations/Comments: 

This case follows a long line of German judgments suspending transfers to Hungary based on recent legislative changes to their asylum system, namely:

VG Augsburg  U.v. 18.8.2015 – Au 6 K 15.50155; VG Würzburg B. v. 13 08.2015 - W 7 S 15.50248; VG Potsdam, 04.09.2015, 4 L 810/15.A; VG Düsseldorf B. v. 11.09.2015 - 8 L 2442.15.A; VG  München U. v. 11.09.2015 - M_23_K_15_50045; VG Augsburg U.v. 18.8.2015 – Au 6 K 15.50155; VG Düsseldorf B. v. 20.8.2015 – 15 L 2556/15.A; VG Saarland B. v. 12.08.2015- 3 L 816.15; VG Düsseldorf B. v. 03.09.2015 - 22 L 2944.15.A; VG Düsseldorf B. v. 11.08.2015 - 22 L 2559.15.A; and VG Minden, 02.10.15, 19 L 923/15.A 

This case summary was completed by Linklaters LLP. 

Other sources cited: 

Art. 9 (1) Eurodac Regulation

Art. 24 (4) Eurodac Regulation

UNHCR (UN High Commissioner for Refugees), UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, 03.07.2015, http://www.ecoi.net/local_link/307005/444377_de.html  

Case Law Cited: 

Germany - Administrative Court Münster, 07.07.2015 – 2 L 858/15.A

Germany - Administrative Court Kassel, 07.08.2015 – 3 L 1303/15.KS.A

Germany - Administrative Court of Saarland, 12.08.2015 – L 776/15