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Home ›Deutschland - Verwaltungsgericht Münster, 15. März 2010, 11 K 413/09.A
European Union Law > EN - Qualification Directive, Directive 2004/83/EC of 29 April 2004 > Art 4 > Art 4.3 (a)
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Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen drohender Genitalverstümmelung und Zwangsehe in Nigeria für alleinstehende Frau (Urhobo). Die wirtschaftliche und soziale Lage in Nigeria ist bereits für die große Mehrheit der nigerianischen Bevölkerung schwierig und angespannt. Für alleinstehende Frauen stellt sich die Situation noch als weitaus schwieriger dar, da Frauen in Nigeria vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Sie werden in Nigeria weitgehend als nicht geschäftsfähig behandelt, so dass die Wahrung ihrer eigenen Belange und Ansprüche praktisch nur möglich ist, wenn sie über familiären Beistand verfügen.
Die Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige katholischen Glaubens und Volkszugehörige der Urhobo. Sie reiste im Dezember 2008 mit dem Flugzeug von Lagos nach Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Zur Begründung gab sie an: Sie habe von 2002 bis 2006 in Benin studiert. Nach Beendigung des Studiums habe ihr Vater ihr gesagt, er habe einen Mann für sie gefunden. Es habe sich bei ihm um einen älteren Moslem mit fünf Frauen gehandelt. Im Dezember 2006 habe ihr Vater sie zum Haus dieses Mannes gebracht und dort zurückgelassen. Zunächst habe sie versucht, mit dem Mann zu reden. Dies sei aber aussichtslos gewesen. Er habe sie geschlagen und vergewaltigt. Nach drei Wochen sei sie geflüchtet. Mit Unterstützung einer Freundin sei sie nach Lagos gegangen. Nach einiger Zeit hätten ihr Vater und der Mann jedoch von ihrem Aufenthaltsort erfahren. Ihr sei es dann gelungen, anderweitig unterzukommen. Wegen der zunehmenden Bedrohung habe sie sich in Lagos nicht mehr sicher gefühlt und sich zur Ausreise entschlossen. Überdies hätte ihr die Beschneidung gedroht. Dies sei bei den Urhobos Tradition und werde auch in ihrer Familie praktiziert.
Das Bundeamt lehnte den Antrag ab. Hiergegen richtet sich die Klage.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Artikel 16a Abs. 1 GG noch liegen in ihrem Fall die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
Die von der Klägerin geltend gemachten Gründe der Zwangsverheiratung und drohenden Zwangsbeschneidung in Nigeria sind nicht geeignet, die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne der o.g. Vorschriften zu rechtfertigen. Ungeachtet der Schwere eines solchen Eingriffs in die körperliche Integrität begründet die Gefahr der Genitalverstümmelung keine politische Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.
Eine politische Verfolgung liegt nach der - grundsätzlich auch im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG anwendbaren - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylgrundrecht vor, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. An der danach erforderlichen Ausgrenzung aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit im Heimatland der Klägerin fehlt es hier. Die Beschneidung ist nach wie vor sehr wichtig, um einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können. Verfolgt mithin nach dem dortigen Verständnis die Zwangsbeschneidung gerade den Zweck, betroffene Mädchen bzw. Frauen als vollwertiges Mitglied in die Gesellschaft aufzunehmen und der Familie dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen, während demgegenüber die Weigerung, sich einer Beschneidung zu unterziehen, die Betroffenen und ihre Familien aus dem Kreis ausschlösse, so kann von einem ausgrenzenden Charakter der Beschneidungspraxis nicht ausgegangen werden. Vielmehr wird gerade eine unbeschnittene Frau nicht geachtet, sozial und ökonomisch ausgegrenzt. Die Missbilligung kann soweit gehen, dass betroffene Frauen und Mädchen durch ihre Familie und die Dorfgemeinschaft verstoßen werden. Dieser Ausschluss aus der Gemeinschaft kann unter Umständen zu ihrer Intensität nach erheblichen Beeinträchtigungen für Leib und Leben der Betroffenen führen, gerade wenn eine Minderjährige aus einfachen Verhältnissen unter den schwierigen Lebensumständen für alleinstehende Frauen in Nigeria versuchen muss, ohne den Rückhalt und die wirtschaftliche Unterstützung der Großfamilie die eigene Existenz zu sichern.
Die bis zu einer solcher existenzbedrohenden Lage führende Ausgrenzung unbeschnittener Frauen vermag indes nicht die Annahme einer politischen Verfolgung zu rechtfertigen, weil die aus einem Ausschluss aus der familiären und dörflichen Gemeinschaft resultierenden Gefahren für Leib und Leben keine dem nigerianischen Staat zurechenbare politische Verfolgung darstellen. Hunger, fehlende Unterkunft, mangelhafte Gesundheitsversorgung etc. sind keine vom Staat ausgehenden oder von ihm zu verantwortenden Rechtsverletzungen, die einer Frau gezielt - vorsätzlich, auf eine bestimmte Person gerichtet - wegen der Verweigerung der Beschneidung zugefügt werden, sondern Folgen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, dass auch der im Zusammenhang mit der Genitalverstümmelung von der Klägerin angeführten Zwangsverheiratung mit einem moslemischen Mann nicht der Charakter einer politischen Verfolgung beigemessen werden kann. Zwar sind Zwangsverheiratungen in Nigeria durchaus noch verbreitet, wenn auch nicht in dem Umfang wie die Beschneidung. Es handelt sich jedoch auch hier um eine Vorgehensweise, die im traditionellem Selbstverständnis verwurzelt ist und archaisch-patriarchalischen Vorstellungen entspringt. Jedenfalls fehlt es an einer Ausgrenzung aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit, weil die Zwangsverheiratung gerade durch die Tradition und die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt ist, wie dies auch im vorliegenden Fall von der Klägerin bestätigt wird.
In der Person der Klägerin ist jedoch ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass ihr auf Grund der in ihrer Person liegenden individuellen Umstände unter Berücksichtigung der in Nigeria herrschenden Lebensbedingungen im Falle der Rückkehr eine extreme Gefährdung droht. Es ist für alleinstehende Frauen angesichts der ohnehin schlechten Wirtschaftslage und der Bedeutung der Familien- und Stammesbindungen in der nigerianischen Gesellschaft äußerst schwierig, ohne die familiäre Unterstützung an anderen Orten in Nigeria Fuß zu fassen. Einer Frau, die sich von ihrer Großfamilie abwendet bzw. von dieser verstoßen wird, droht die gesellschaftliche und sozioökonomische Marginalisierung. Alleinstehende Frauen finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit.
Die Klägerin hat sich einer drohenden Zwangsbeschneidung sowie der von ihrem Vater arrangierten Zwangsehe mit einem älteren moslemischen Mann durch Flucht entzogen. Im Falle der Rückkehr nach Nigeria droht ihr daher die ernsthafte Gefahr, Opfer gewalttätiger Übergriffe und Bedrohungen seitens ihres Vaters zu werden, der gewillt ist, die Klägerin zwangsweise dem versprochenen Mann wieder zuzuführen. Überdies hat die Klägerin damit zu rechnen, Opfer einer Zwangsbeschneidung zu werden.
Die Behörde wurde verpflichtet festzustellen, dass in der Person ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Nicht bekannt.
Es ist umstritten, ob die Gefahr der Genitalverstümmelung politische Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe darstellt. Verneint wird dies unter anderem vom Verwaltungsgericht Münster in der hier vorgestellten Entscheidung, ebenso in den og. Entscheidungen Verwaltungsgericht Münster, Urteil vom 23. August 2006 - 11 K 473/04.A; Verwaltungsgericht Münster, Urteil vom 11. Oktober 2007 - 1154/04.A; Verwaltungsgericht München, Urteil vom 13. Juli 2005 - M 26 K 00.50542.
Die Entscheidungen - Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 23. März 2005 - 3 UE 3457/04.A; Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 10. Juni 2005 - A 10 K 13121/03;Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 3. März 2005 - 16 K 586/01.A bejahen diese Frage, ebenso das Verwaltungsgericht Aachen – 2 K 562/07.A – (asyl.net/M17141), das auch zusammengefasst und teilweise übersetzt worden ist.
Germany - Administrative Court Köln, 3 March 2005, 16 K 586/01.A
Germany - Administrative Court München, 13 July 2005, M 26 K 00.50542
Germany - Administrative Court Münster, 11 October 2007, 1154/04.A
Germany - Administrative Court Münster, 23 August 2006, 11 K 473/04.A
Germany - Administrative Court Stuttgart, 10 June 2005, A 10 K 13121/03
Germany - High Administrative Court Hessen 23 March 2005, 3 UE 3457/04.A