Deutschland - Verwaltungsgericht Lüneburg, 16. Dezember 2013, 6 B 64/13

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
16-12-2013
Citation:
6 B 64/13
Court Name:
Verwaltungsgericht Lüneburg
National / Other Legislative Provisions:
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 26a
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 27
Germany - AsylVfG (Asylum Procedure Act) - § 34
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act)
Germany - VwGO (Code of Administrative Court Procedure)
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Headnote: 

Das Interesse eines Antragstellers, von der Abschiebung nach Italien einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt, wenn dem Antragsteller im Fall einer Rückkehr nach Italien schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen drohen können, aufgrund der unzureichenden Unterbringungsmöglichkeiten dort und weil dort die medizinische Betreuung aufgrund von dauerhafter Überlastung nicht gewährleistet sein könnte. 

Facts: 

Der Antragsteller wendet sich gegen die Rücküberstellung nach Italien. Die Republik Italien hat am 7. November 2013 die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Antragstellers erklärt, um den Antrag auf Schutzgewährung abzuschließen.

Eine abschließende Prüfung des Asylgesuchs ist in Italien bislang nicht erfolgt. Mit Bescheid vom 8. November 2013 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet. Der Antragsteller beantragte am 20. November 2013, die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 8. November 2013 anzuordnen.

Bei dem Antragsteller wurde eine Halslymphknotentuberkulose diagnostiziert und therapiert. Die Therapie ist beendet. Regelmäßige ärztliche Verlaufskontrollen sind erforderlich, um rechtzeitig eine erneute Behandlungsbedürftigkeit zu erkennen. Der Antragsteller ist in Italien untersucht, in ein Krankenhaus eingeliefert und mit Medikamenten versorgt worden, aber geholfen hat ihm niemand richtig. In Deutschland wurde er zweimal operiert. 

Decision & Reasoning: 

Das Interesse des Antragstellers, von der Abschiebung nach Italien einstweilen verschont zu bleiben, überwiegt, weil dem Antragsteller im Fall einer Rückkehr nach Italien schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen drohen können, aufgrund der unzureichenden Unterbringungsmöglichkeiten und weil dort die medizinische Betreuung aufgrund von dauerhafter Überlastung nicht gewährleistet sein könnte.

Bei der Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse des Betroffenen an einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuwägen. Insoweit finden die in den Fällen der vorliegenden Art in der Vergangenheit geltenden Einschränkungen, die darauf gründeten, dass aufgrund der bislang geltenden gesetzlichen Bestimmungen eine angeordnete Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat kraft Gesetzes nicht nach §§ 80, 123 VwGO ausgesetzt werden durfte, keine Anwendung mehr.

Daher gelten die allgemeinen Grundsätze für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung offen, weil weder ersichtlich ist, dass der Rechtsbehelf Erfolg haben wird, noch offensichtlich ist, dass der Rechtsbehelf erfolgslos bleiben wird, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an.

Vorliegend erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 8. November 2013 weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig. Es liegt auch kein Selbsteintritt der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II Verordnung vor. Denn weder die Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylVfG am 28. September 2013 noch die Anhörung vor dem Bundesamt am 31. Oktober 2012 bringen zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik Deutschland den Entschluss gefasst habe, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, das Asylverfahren abweichend vom Regelfall in seiner „Gesamtheit" in eigener Verantwortung durchzuführen. Die Befragung diente ausschließlich der ordnungsgemäßen Abwicklung des gestellten Asylantrags, bietet jedoch keinen Anlass, von einer Ausübung des Selbsteintrittsrechts auszugehen. Gegenwärtig ist außerdem offen, ob im Fall des Antragstellers außergewöhnliche Gründe vorliegen, die die Bundesrepublik Deutschland zum Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin Ii- Verordnung verpflichten können.

Es ist nicht zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien grundlegende Mängel aufweisen. Es ist des Weiteren davon auszugehen, dass Unterkunft, Ernährung und medizinische Versorgung von Asylsuchenden in Italien sichergestellt sind.

Jedoch könnten die anerkannten Flüchtlinge maßgeblich benachteiligt werden, da vor allem Unterbringungsmöglichkeiten nicht ausreichend zur Verfügung gestellt werden. Zudem gebe es eine wachsende Zahl von Fällen, in denen besonders schutzbedürfte Asylbewerber keine Plätze in besonderen Einrichtungen erhalten, sondern während ihres Asylverfahrens in Aufnahmezentren verblieben, die den besonderen Bedürfnissen nicht gerecht werden.

Es bestehen keine durchgreifenden Anhaltspunkte für erhebliche systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien. In Italien werden die Mindeststandards des Europäischen Flüchtlingsschutzes - jedenfalls für gesunde junge Männer - eingehalten. Ob dies jedoch auch für den Antragsteller gilt, ist gegenwärtig offen.

Bis zu einer tatsächlichen Entlastung der Unterbringungssituation in Italien sind vor allem besonders schutzbedürfte Personengruppen von den zahlreichen Missständen betroffen und aufgrund der unzureichenden Unterbringungskapazitäten gesundheitlich gefährdet.

Outcome: 

Antrag stattgegeben. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2013 wird angeordnet.

Subsequent Proceedings : 

Das Hauptklageverfahren wird beim VG Lüneburg unter dem Az.: 6 A 252/13 geführt.

 

Other sources cited: 

UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013, S. 9 f. - UN-HCR 2013

Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Freiburg vom 11. Juli 2012

Stellungnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vom 24. April 2012 an das Verwaltungsgericht Braunschweig

Gutachten der Flüchtlingsorganisation borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. (Judith Gleitze), vom Dezember 2012

Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013 („Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden")

Case Law Cited: 

Germany - Administrative Court Hannover, 7 November 2013, 2 A 75/13

Germany - Administrative Court Trier, 18 September 2013, 5 L 1234/13.TR

Germany - Administrative Court Hamburg, 18 July 2013, 10 A 581/13

Germany - Administrative Court Düsseldorf, 06 February 2013, 17 L 150/13

Germany - Administrative Court Augsburg, 11 January 2013, Au 6 K 12.30358

Germany - Administrative Court Osnabrück, 18 December 2012, 5 B 146/12

Germany - Higher Administrative Court Bavaria, 3 March 2010, 15 ZB 10. 30005

CJEU - C-411/10 and C-493/10 N.S. v Secretary of State for the Home Department and ME (UP)

Germany - Federal Constitutional Court, 14 May 1996, 2 BvR 1938/93