Deutschland - Verwaltungsgericht Hannover, Az. 1 B 5946/15, 7 Marz 2016

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
07-03-2016
Citation:
1 B 5946/15
Court Name:
Verwaltungsgericht Hannover
National / Other Legislative Provisions:
Germany - Section 27a AsylG(Asylum Act)
Germany - Section 34 a AsylG
Germany - Section 76AsylG
Germany - Section 77 AsylG
Germany - Section 80 (5) VwGO(Code of Administrative Court Procedure)
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Headnote: 

Ein Mitgliedsstaat kann von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (“Dublin-III-VO“) abweichen, indem er einen Antrag auf internationalen Schutz prüft, obwohl der Mitgliedsstaat nach den in der Dublin-III-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

Bei der Prüfung von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO (Selbsteintrittsrecht) hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge („Bundesamt“) die Belange des Kindeswohls und die Achtung des Familienlebens vorrangig zu beachten. Zudem ist die Möglichkeit der Familienzusammenführung im Sinne von  Art. 6 Abs. 3 a Dublin-III-VO entsprechend zu berücksichtigen.

Für den Fall, dassein Antrag auf internationalen Schutz eine Familienzusammenführung ermöglicht und dem Kindeswohl dient, ist dasbehördliche Ermessen bei der Prüfung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auf Null reduziert.

Obgleich es sich um eine Zuständigkeitsregelung handelt, regelt Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO nicht nur die Beziehung zwischen Mitgliedsstaaten, sondern dient auch dem Grundrechtsschutz. Deshalb ist sie individualschützend und vermittelt dem Antragsteller ein subjektives Recht, das er gerichtlich durchsetzen kann.

Facts: 

Die Antragsteller, eine Mutter und ihre drei Kinder (geboren 2004, 2006 und 2009), sind russische Staatsangehörige yezidischen Glaubens. Sie reisten im Herbst 2012 zusammen mit dem Ehemann und Vater der Kinder nach Frankreich ein. Dort stellten die Antragssteller einen Antrag auf internationalen Schutz, der jedoch von der französischen Behörde abgelehnt wurde. Im Jahr 2015 reisten die Antragssteller in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

Die Antragssteller trugenvor, der Kindesvater sei wegen einer Straftat von Frankreich an Deutschland ausgeliefertworden und verbüßeeine Haftstrafe von neun Jahren. Infolgedessen seien die Antragssteller in Frankreich alleine zurückgelassen worden, wo die Mutter später einen Nervenzusammenbruch erlitt. Sie erklärten zudem, dass sie gegenwärtig von den Großeltern der Kinder Unterstützung bekämen, welche deutsche Staatsangehörige seien. Die Kinder würden mittlerweile in Deutschland zur Schule gehen und wollten in der Nähe ihres Vaters sein.

Nach einer Fingerabdrucküberprüfung über dieEURODAC Datenbank wurde vom Bundesamt der vorherige Antrag in Frankreich festgestellt. Das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes nach Art.  18 Abs. 1 d  der Dublin-III-VO wurde von den französischen Behörden akzeptiert.

Per Bescheid lehnte das Bundesamt die Anträge auf internationalen Schutz in Deutschland als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung nach Frankreich an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung. 

Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Anträge seien nach § 27a AsylG unzulässig, da Frankreich aufgrund der dort bereits gestellten Asylanträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Dublin-III-VO veranlassen würden, seien nicht ersichtlich.

Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht Hannover („das Gericht“) erhoben (Az. 1 A 5945/15) sowie einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Az. 1 B 5945/15) nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung („VwGO“) gestellt.

Decision & Reasoning: 

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes war erfolgreich. Die aufschiebende Wirkung der Klage wurde bezüglich der Abschiebungsanordnung nach Frankreich angeordnet.

Das Gericht befasst sich in der Entscheidung mit drei Fragen:

1. Welche Umstände sind ausreichend, um von den Zuständigkeitsvorschriften der Dublin-III-VO gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO abzuweichen?

Zwar bestimmt Art. 17 Dublin-III-VO keine festen Kriterien für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts. Erwägungsgrund Nr. 17 der Dublin-III-VO erklärt jedoch ausdrücklich, dass Mitgliedsstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder bei Härtefällen von den verbindlich festgelegten Zuständigkeitskriterienin Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO abweichen können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen. Daneben bestimmen Erwägungsgrund Nr. 13 und 14 der Dublin-III-VO, dass das Wohl des Kindes und die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägungen bei der Anwendung der Verordnung sein sollen. Nach Art. 6 Abs. 3 a Dublin-III-VO ist zudem bei der Würdigung des Kindeswohls der Möglichkeit der Familienzusammenführung gebührend Rechnung zu tragen.

Nach Auffassung des Gerichts, hat das Bundesamt bei der Prüfung des Selbsteintrittsrechts diese Erwägungen nicht gebührend berücksichtigt, indem es die Möglichkeit der Familienzusammenführung und das besondere Interesse der Kinder an der Aufrechterhaltung des Kontakts zu ihrem Vater während der Haftstrafe in Deutschland außer Acht gelassen habe. Zudem wäre die Unterstützung der Antragsteller durch die in Deutschland lebenden Großeltern, insbesondere die erbrachten Betreuungs- und Erziehungsleistungen für die Kinder infolge der psychischen Erkrankung der Mutter, zu berücksichtigen gewesen.

Folglich liegen nach Auffassung des Gesichts außergewöhnliche Umstände vor, die unter Beachtung der Gesichtspunkte besonderer humanitärer Gründe undder Familienzusammenführungeine Abweichung von den Zuständigkeitsvorschriften gemäß Art. 17 Abs. 1  Dublin-III-VO rechtfertigen.

2. VerfügtdasBundesamt in einem derartigen Fall über einen Ermessensspielraum?

Grundsätzlich verfügt das Bundesamt bei der Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO über einen Ermessensspielraum. Nach Auffassung des Gerichts könne jedoch aus humanitären Gründen eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen sein, die keinen Raum für eine andere Entscheidung als die Ausübung des Selbsteintrittsrechts zulasse, um den vorrangigen Zielen der Dublin-III-VO, der Wahrung des Kindeswohles und Unterstützung der Familienzusammenführung, Rechnung zu tragen.

3. Können Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-VO ein subjektives Recht vermitteln?

Die Verfahrensvorschriften der Dublin-III-VO, welche beispielsweise die Zuständigkeit oder Fristen regeln,  begründen nach Auffassung des Gerichts grundsätzlich keine subjektiven Rechte, da diese Vorschriften nur die Beziehung zwischen den Mitgliedsstaaten regeln.

Das Gericht ist jedoch der Ansicht, dass Art. 17 Dublin-III-VOhiervon Ausnahme begründet, da diebei der Prüfung des Selbsteintrittsrechts eingeräumte Ermessensbefugnis gerade der Berücksichtigung humanitärer Gründe und Härtefällen diene. Die Vorschrift regele daher nicht nur die Beziehung zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern diene auch dem Grundrechtsschutz. Sie sei deshalb individualschützend und vermittele den Antragsstellern ein subjektives Recht, dass sie gerichtlich durchsetzen können.

Outcome: 

Die Antragsstellung war erfolgreich. Die aufschiebende Wirkung der Klage wurde bezüglich der Abschiebungsanordnung des Bundesamtes angeordnet. 

Subsequent Proceedings : 

Die Entscheidung des Gerichts unter dem Az. 1 B 5945/15 ist beschränkt auf den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes. Rechtsmitteleinlegung ist nicht statthaft. 

Observations/Comments: 

This case summary was written by Linklaters LLP.

It was proof read by Ann-Christin Bolter, an LLM graduate in Human Rights Law at Queen Mary's Univeristy, London. 

Case Law Cited: 

Germany - Administrative Court Minden, 17.08.2015 - case no. 10 K 536/15.A

Germany - Administrative Court Hannover, 16.02.3015 - case no. 10 B 403/15

Germany - Federal Administrative Court, 16.11.2015 - case no. 1 C 4/15

Germany - District Court Hannover, 24.09.2013 - case no. 217 Ls 3171 Js 46313/04 (307/13)

Germany - Higher Administrative Court of Lower Saxony, 14.12.2015 – case no. 8 PA 199/15