Deutschland - Verwaltungsgericht Gießen, 11 juli 2013, 5 K 1316/12.GI.A

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
11-07-2013
Citation:
5 K 1316/12.GI.A
Court Name:
Verwaltungsgericht Gießen
National / Other Legislative Provisions:
ICCPR - Art 18.3
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60 Abs. 2
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60 Abs. 3
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60 Abs. 4
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60 Abs. 5
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60 Abs. 6
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 25 Abs. 2
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 3
Germany - AsylVfG (Asylum Procedure Act) - § 34
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Headnote: 

Ahmadis, für die das Praktizieren ihres Glaubens in der Öffentlichkeit und gegebenenfalls auch das Werben für den Glauben identitätsbestimmend und daher unverzichtbar ist, droht in Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte „Relationsbetrachtung“, bei der die Zahl der Angehörigen einer bestimmten Gruppe mit der Zahl der tatsächlich drohenden Verfolgungsakte verglichen werden soll, erscheint hier faktisch unmöglich.

Facts: 

Die Antragstellerin ist pakistanische Staatsangehörige und gehört zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft. Sie reiste im August 2011 in die Bundesrepublik ein. Ihren Asylantrag begründet sie wie folgt: Ihr Ehemann sei im Jahre 2007 verstorben. Danach habe sie allein in Karachi gelebt. Als alleinstehende, ihren Glauben auch in der Öffentlichkeit praktizierende Ahmadiyya-Frau habe sie in der Nachbarschaft ständig Probleme gehabt. Man habe sie bedroht und beschimpft, ausserdem habe man ihr ständig das Wasser abgeschaltet. Sie sei gebrechlich und leide an verschiedenen Krankheiten.

Decision & Reasoning: 

Unter Berücksichtigung der Situation der Ahmadis in Pakistan besteht für die Antragstellerin als bekennende Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft zumgegenwärtigen Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit dort die Gefahr, wegen ihres Glaubens einerschwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QRL ausgesetzt zu sein. Zu denHandlungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9Abs. 1 lit. aQRL darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit denGlauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche,diesen Glauben öffentlich zu leben. Von zentraler Bedeutung für die Einschätzung einer schwerwiegendenMenschenrechtsverletzung ist das gegen die Ahmadis gerichtete Verbot, sich alsMuslime zu begreifen und dieses Verständnis auch in dieÖffentlichkeit zu tragen (vgl. Art.Abs. 2 lit. bQRL). Denn hieraus leiten sich letztlich alle weiterenVerbote ab(vgl. Art. 9 Abs. 2 lit. cQRL). Dieses Verbot undseine Folgeumsetzungen müssen das Selbstverständnis der Ahmadis im Kern treffen, wenn insbesonderejegliches Agieren in der Öffentlichkeit, insbesondere auch ein Werben für den Glauben und ein friedlichesMissionieren, nicht zugelassen werden und nur unter dem Risiko einer erheblichen Bestrafung oder sonstiger Leib und Leben gefährdender Übergriffe möglich sind.

Für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und das Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen, besteht in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko. Bei dieser wertenden Betrachtung ist insbesondere das erhebliche Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten bzw. gravierenden Übergriffen privater Akteure zu berücksichtigen. Eine besondere und zusätzliche „Relationsbetrachtung“, wie sie das Bundesverwaltungsgericht fordert und die der Plausibilisierung des Verfolgungsrisikos dienen soll, erscheint jedoch faktisch unmöglich. Der Faktor der Zahl derjenigen Ahmadis, die trotz aller Verbote, Strafandrohungen, Strafverfahren, verhängter Strafen sowie Leib oder Leben gefährdender Angriffe privater Akteure weiter öffentlichkeitswirksam agieren, lässt sich nicht annähernd zuverlässig ermitteln. Scheitert bereits an dieser Tatsache eine Relationsbetrachtung, dürfen diese faktischen Grenzen der Ermittlungsmöglichkeiten nicht zu Lasten der Schutzsuchenden und Schutzbedürftigen gehen. Wenn sich wie hier aus anderen Erkenntnisquellen plausible Schlussfolgerungen ziehen lassen, die noch hinreichend verlässlich sind, ist es aufgrund des unionsrechtliches Grundsatzes des „effet utile“ im Interesse eines wirksamen und menschenrechtsfreundlichen Flüchtlingsschutzes  geboten, die Prüfung an diesem Punkt abzuschließen.

Darüber hinaus stellt auch der erzwungene Verzicht auf öffentlichkeitsbezogenes Glaubensleben bei dem hier in den Blick zu nehmenden Personenkreis eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nach Art. 9 Abs. 1 QRL dar, die für sich betrachtet bereits die maßgebliche Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Selbst wenn der auf die dargestellte Art und Weise verursachte Verzicht auf jede öffentliche Glaubensbetätigung allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hätte, ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau dieses Aspekts mit den oben beschriebenen vielfältigen Diskriminierungen und Einschränkungen, die für sich betrachtet entweder noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen bzw. nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen. Wegen dieser letztlich maßgeblichen Gesamtschau liegt im Falle eines erzwungenen Verzichts auf eine öffentliche Glaubensbetätigung ebenfalls eine Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL vor (ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.06.2013 - A 11 S 757/13 - ).

Einem seinem Glauben innerlich verbundenem Ahmadi steht auch kein interner Schutz im Sinne des Art. 8 QRL in Pakistan offen. Es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Was die dem pakistanischen Staat unmittelbar zuzurechnenden Eingriffe angeht, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen landesweit die gleichen.

Aufgrund des durch die Befragung der Antrastellerin in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks und des Ergebnisses der Beweisaufnahme handelt es sich bei ihr um eine ihrem Glauben eng verbundene und von diesem stark geprägte Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft. Als alte und kranke Frau müsste die Antragstellerin in Pakistan in flüchtlingsschutzrelevanter Weise auf jegliches öffentliches Glaubensbekenntnis verzichten.

Outcome: 

Die Antragstellerin wurde als Flüchtling anerkannt.

Observations/Comments: 

Das Urteil steht im Zusammenhang mit den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.02 2013 (10 C 23.12) und des VGH Baden-Württemberg vom 12.06.2013 (A 11 S 757/13). Mit Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie am 28.08.2007 hat sich die jahrzehntealte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts mit Blick auf die Verfolgung aus religiösen Gründen zugunsten der Betroffenen geändert. Vormals hatte das BVerwG die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach beurteilt, ob in den Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung  oder in den weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensbetätigung eingegriffen wird. Hieran hält es im Hinblick auf die Regelung des Art. 10 Abs. 1 lit. b und im Anschluss an die klarstellende Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 05.09.2012 Rs. C-71/11 und C-99/11) nicht mehr fest. Das BVerwG fordert von den Tatsachengerichten in dem o.g. Urteil nunmehr eine ‚Relationsbetrachtung’, die der Plausiblisierung des Verfolgungsschicksals dienen soll. Bei der Relationsbetrachtung, bei der es sich um eine ‚wertende Betrachtung handelt’, soll die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig in der Öffentlichkeit praktizierenden Ahmadis mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung gesetzt werden. Der VGH Baden-Württemberg, an den das BVerwG die Rechtssache zurückverwiesen hat, hat mit Urteil vom 12.06.2013 erklärt, dass die Ermittlung der hierfür erforderlichen Faktengrundlage nicht möglich sei; dem schliesst sich das VG Gießen an. Es bleibt abzuwarten, ob dies vor dem Bundesverwaltungsgericht Bestand haben wird.

Other sources cited: 

Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und schiebungsrelevante Lage in Pakistan – Lagebericht – vom 18.05.2007

Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und schiebungsrelevante Lage in Pakistan – Lagebericht - vom 17.03.2010

Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und schiebungsrelevante Lage in Pakistan – Lagebericht - vom 01.07.2011

Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 02.11.2012

Auswärtiges Amt, Lagebericht Pakistan vom 02.12.2012

Vernehmung des Sachverständigen Zeugen G. Vor dem VG Stuttgart vom 13.03.2013

Case Law Cited: 

Germany - Administrative Court Baden-Württemberg, 12 June 2013, A 11 S 757/13

Germany - High Administrative Court OVG NRW, 14 December 2010, 19 A 2999/06.A

Germany - Administrative Court Hesse, 15 March 1995, 10 EU 02/94

Germany - Federal Administrative Court, 20 February 2013, 10 C 21.12

Germany - Federal Administrative Court, 5 July 1994, 9 C 1.94