Deutschland - Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 18 juli 2013, 5a K 4418/11.A

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
18-07-2013
Citation:
5a K 4418/11.A
Court Name:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
National / Other Legislative Provisions:
Germany - Grundgezets (Basic Law) - Art 16a
Germany - Grundgezets (Basic Law) - Art 6
Germany - AufenthG (Residence Act) - § 60
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 3
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 26a
Germany - AsylvfG (Asylum Procedure Act) - § 27
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Headnote: 

In Afghanistan ist die Gefahr einer Zwangsverheiratung, zumal bei minderjährigen Mädchen, weit verbreitet, sodass sie für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen kann.
Bei der Prüfung des Art. 8 RL 2004/83/EG ist zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familie nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner zurückkehren können.

Facts: 

Die Antragstellerinnen sind afghanische Staatsangehörige schiitischen Glaubens. Die Antragstellerin wurde 1991 geboren. Ihre Tochter wurde im Jahre 2010 geboren. Der Ehemann bzw. Vater der Antragstellerinnen ist ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens. Die Antragstellerin reiste mit ihrer Tochter im Januar 2011 in Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Zur Begründung trug sie Folgendes vor:

Die Familien der Antragstellerin und ihres jetzigen Ehemannes seien Nachbarn in I. in Afghanistan gewesen. So habe sie ihn kennengelernt und sich in ihn verliebt. Ihr Vater sei damit nicht einverstanden gewesen, sondern wollte sie an einen wesentlich älteren Cousin verheiraten. Deshalb habe sie mit ihrem jetzigen Ehemann beschlossen, zu flüchten. Auch seine Familie sei gegen die Flucht und die Eheschließung. 

Die Antragstellerin hat bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2009 in Afghanistan gelebt. Dann ist sie mit ihrem heutigen Ehemann in den Iran gegangen, wo sie geheiratet und ihre Tochter zur Welt gebracht hat. Nach einem halbjährigen Aufenthalt ist die Familie über Griechenland nach Deutschland gekommen.

Decision & Reasoning: 

Die Antragstellerinnen sind als Flüchtlinge anzuerkennen aufgrund drohender Verfolgung wegen des Geschlechts. Die Antragstellerin hat ihre Heimat aufgrund begründeter Furcht vor einer Zwangsheirat verlassen und ist im Falle ihrer Rückkehr hiervon weiterhin bedroht bzw. wäre sie Repressionen seitens ihres Vaters ausgesetzt.

Die Gefahr einer Zwangsverheiratung in Afghanistan, die dort als solche - zumal bei minderjährigen Mädchen - weit verbreitet ist, kann für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen. Zwar stärken inzwischen Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen. Allerdings hat dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit. Frauen werden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert.  

Im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen und Mädchen. Vor allem in der Region, aus der die Antragstellerin stammt, schränkt ein ausgeprägter traditioneller Verhaltenskodex Frauen und Mädchen in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit besonders stark ein. Entsprechend der untergeordneten Stellung der Frauen in Afghanistan ist häusliche Gewalt in Form von Schlägen und Misshandlungen weit verbreitet. Bei etwa 60% der in Afghanistan geschlossenen Ehen soll es sich um Kinderehen handeln. Unter Zwang sollen bis zu 80% aller Ehen eingegangen werden. Die Flucht vor einer Zwangsverheiratung kann Auslöser für einen Ehrenmord sein. Geht die Frau, die sich einer Zwangsverheiratung entzieht, dabei sogar eine vor- oder außereheliche Beziehung mit einem anderen Mann ein, drohen nicht nur der Frau selbst, sondern mitunter sowohl ihren eigenen Kindern als auch dem anderen Mann ein Ehrverbrechen.

Aufgrund der Angaben der Antragstellerin steht fest, dass diese einer Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 RL 83/2004/EG ausgesetzt war. Denn der Akt der Zwangsverheiratung selbst, durch den sie bedroht war, und die Aufrechterhaltung dieses Zwangs erfüllen den Tatbestand einer Verletzung des Art. 12 EMRK, wonach Männer und Frauen das Recht haben, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Dieses Recht umfasst auch die negative Freiheit, eine Ehe nicht eingehen zu müssen, wenn dies nicht dem eigenen Wunsch entspricht. Zugleich verletzt die Zwangsverheiratung und die Nötigung zum Verbleib in einer Zwangsehe das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK. Zudem verstößt eine Zwangsheirat gegen Art. 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wonach eine Ehe nur bei freier und uneingeschränkter Willenseignung der künftigen Ehegatten geschlossen werden darf.

Akteur dieser drohenden Verfolgung war in erster Linie der Vater der Antragstellerin zu 1. Hierbei handelt es sich um einen beachtlichen nichtstaatlichen Akteur im Sinne des Art. 6 lit. c) RL 83/2004/EG. Denn die Verfolgungshandlungen können ohne Einschränkungen auch von Einzelpersonen ausgehen.

Die Antragstellerin konnte auch nicht den Schutz des Staates oder hinreichend mächtiger Parteien, Organisationen oder internationaler Organisationen in Anspruch nehmen (Art. 7 RL 83/2004/EG). Insbesondere ist der afghanische Staat nicht in der Lage, Schutz vor der Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Der Antragstellerin kommt nach alledem in Bezug auf die anzustellende Verfolgungsprognose die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG zu Gute, da sie von der Zwangsheirat unmittelbar bedroht war. Die Verfolgungsfurcht der Antragstellerin hat sich nach ihrer Flucht sogar noch gesteigert, da sie nun – wie sie vorgetragen hat – befürchtet, dass ihr Vater sie im Falle einer Rückkehr töten würde, weil sie nach Auffassung ihres Vaters dessen Ehre und die Ehre der Familie beschmutzt hat.

Es besteht schließlich auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des  Art. 8 RL 2004/83/EG. Von der Antragstellerin kann nicht erwartet werden, dass sie sich in Kabul oder anderswo in Afghanistan dauerhaft aufhält, um der Bedrohung durch den Vater zu entfliehen. Es ist davon auszugehen, dass es der Familie nicht gelingen wird, das Existenzminimum in Kabul zu sichern. Der Ehemann der Antragstellerin ist weder vermögend noch beruflich besonders qualifiziert. Die Ernährung für eine Familie mit zwei Kleinkindern kann in Kabul durch Aushilfsjobs nicht sichergestellt werden.

Besteht nach alledem für die Antragstellerin ein Anspruch auf  Abschiebungsschutz, genießt auch ihre Tochter diesen Schutz, weil ihr selbst Blutrache durch ihren Großvater droht. 

Outcome: 

Die Antragstellerinnen erhielten den Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Other sources cited: 

Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 10. Januar 2012, S. 20 ff., und 4. Juni 2013

Amnesty International, Jahresbericht Afghanistan 2012, 24. Mai 2012

Amnesty International, Jahresbericht Afghanistan 2013, 23. Mai 2013

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage", 3. September 2012

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Situation geschiedener Frauen", 1. November 2011

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Situation von Waisenmädchen", 24. November 2011

Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Iran: Zwangsheirat einer afghanischen Minderjährigen", 7. Februar 2013

UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender – zusammenfassende Übersetzung, 24. März 2011

Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes, 27. Dezember 2012

ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Praxis der Blutrache, 11. Juni 2013

Bundeszentrale für politische Bildung, Kurzprofil zum Konflikt in Afghanistan, 18. Februar 2013

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010

Lutze, Gutachten an OVG Rheinland Pfalz, 8. Juni 2011, S. 3 und 6 ff.

Case Law Cited: 

Germany - Administrative Court Stuttgart, 25 June 2013, A 6 K 24/12/12

Germany - Administrative Court Schleswig-Holstein, 17 March 2011, 12 A 51/10

Germany - Federal Administrative Court, 1 February 2007, 1 C 24.06

Germany - Federal Administrative Court, 18 July 2006, 1 C 15.05

Germany - Federal Administrative Court, 18 July 2006, 1 C 15.05

Germany - Federal Administrative Court, 5 June 2013, 2 constitutional complaint 586/13

Germany - Federal Administrative Court, 21 May 2003, 1 B 298.02

Germany - Federal Administrative Court, 29 June, 2009, 10 B 60.08

Germany - High Administrative Court Nordrhein-Westfalen, 19 February 2008, 20 A 2300/06.A

Germany - Administrative Court Göttingen, 17 August 2010, 2 B 301/10

Germany - Administrative Court of Augsburg, 21 January 2011, Au 6 K 10.30586

Germany - Administrative Court Augsburg, 16 June 2011, Au 6 K 11.30092

Germany - Administrative Court Gelsenkirchen, 23 May 2012, 5a K 1907/11.A and 5a K 3137/11.A

Germany - Administrative Court Augsburg, 1 December 2011, Au 6 K 11.30308

Germany - Administrative Court Frankfurt a.M., 17 November 2011, 7 K 4821/10.F.A

Germany - Administrative Court Munich, 7 December 2011, M23 K 11.30139

Germany - Administrative Court Wiesbaden, 5 May 2012, 7 K 823/11.WI.A

Germany - Administrative Court Augsburg, 24 May 2012, Au 6 K 11.30369

Germany - Administrative Court Darmstadt, 18 June 2012, 2 K 161/11.DA.A

Germany - Administrative Court Frankfurt a.M., 4 July 2012, 1 K 1836/11.F.A

Germany - Administrative Court Munich, 30 July 2012, M 23 S 12.30543

Germany - Administrative Court Schleswig-Holstein, 16 November 2012, 12 A 65/11

Germany - Administrative Court Trier, 14 January 2013, 5 K 494/12.TR

Germany - Administrative Court Gelsenkirchen, 24 January 2013, 5a K 877/11.A

Germany - Administrative Court Gelsenkirchen, 21 February 2013, 5a K 1523/11.A, 1524/11.A and 1525/11.A

Germany - Administrative Court Gelsenkirchen, 21 February 2013, 5a K 3753/11.A