Deutschland - Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, 27. Januar 2006, 1 LB 22/05

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
27-01-2006
Citation:
1 LB 22/05
Additional Citation:
asyl.net/M8574
Court Name:
Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein
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Headnote: 

Eine Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" ist in ihrer "Qualität" den in § 60 Abs. 1 S. 4 (c) AufenthG genannten Verfolgungen nicht gleichzusetzen, wenn sie von einem kleineren, privat abgrenzbaren Personenkreis ausgeht. In diesem Fall bleibt die "Ausgrenzung" auf den Bereich der betroffenen Familien oder "Clans" beschränkt.

Eine Familie oder ein "Verband" von Verwandten ("Clan") ist in aller Regel nicht als "soziale Gruppe" im Sinne des Flüchtlingsschutzes anzusehen. Eine Familie wird nicht als von der übrigen Gesellschaft deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener ("Gruppen"-) Identität wahrgenommen.

Facts: 

Der 1986 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im März 2003 nach Deutschland ein und beantragte die Flüchtlingsanerkennung. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 21.11.2003 von der Behörde abgelehnt. Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28.7.2005 die Behörde verpflichtet, den Kläger als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen, weil der Kläger einer Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 4 (c) AufenthaltsG ausgesetzt sei, ohne wegen dieser Bedrohung staatlichen Schutz erlangen zu können. Die Behörde beantragte mit Erfolg hiergegen die Zulassung der Berufung und begründete dies damit, dass Nachstellungen durch private Dritte dem Begriff der Verfolgung durch „nicht-staatliche Akteure“ nicht zuzuordnen sei.

Decision & Reasoning: 

Der Kläger kann aus § 60 Abs. 1 Satz 4 (c) AufenthG keinen Schutz beanspruchen. Er hat  zwar geltend gemacht, er sei der Gefahr einer Verfolgung (Blutrache) durch Angehörige der Familie oder Sippe ausgesetzt, der die von seinem Vater erschossenen beiden Bauern zuzurechnen sind. In rechtlicher Hinsicht ist indes zweifelhaft, ob die Familien- oder Sippenmitglieder der getöteten Bauern als "nichtstaatliche Akteure" i.S.d. § 60 Abs. 1 S. 4 (c) AufenthG anzusehen sind. Aus einer systematischen Auslegung des § 60 Abs. 1 Satz 4 (c)  AufenthG ergibt sich, dass "Akteure", die - wie hier - allein im Vollzug einer privaten Blutrache tätig werden, nicht in den Anwendungsbereich der Norm fallen: Indem § 60 Abs. l AufenthG gleichermaßen Schutz vor staatlicher (Satz 4 (a)), staatsähnlicher (Satz 4 (b)) und nichtstaatlicher Verfolgung (Satz 4 (c)) bietet, wird eine bestimmte "Qualität" der Gefahr vorausgesetzt, die mit der Verfolgung verbunden ist. In den Fällen staatlicher bzw. staatsähnlicher Verfolgung liegt die Gefahr in der Organisation der Verfolgung, der die Verfolgten im ganzen Land oder zumindest in den beherrschten Landesteilen ausgesetzt sind und die wegen dieser Organisation nachhaltig und "engmaschig" angelegt ist. Eine derartige Verfolgung führt zu einer "Ausgrenzung" des Betroffenen, aus der nur noch die Flucht einen Ausweg bietet. Eine Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" ist in ihrer "Qualität" den in § 60 Abs. 1 S. 4 (a) und (b) AufenthG genannten Verfolgungen nicht gleichzusetzen, wenn sie von einem kleineren, privat abgrenzbaren Personenkreis ausgeht. In diesem Fall bleibt die "Ausgrenzung" auf den Bereich der betroffenen Familien oder "Clans" beschränkt.

Unabhängig davon, ob der Kläger von "nichtstaatlichen Akteuren" bedroht oder gefährdet wäre, würde diese Gefährdung nicht an eines der nach § 60 Abs. 1 AufenthG geschützten Rechtsgüter Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung anknüpfen.

In Betracht käme - vorliegend - allein, die Familie des Klägers als eine "soziale Gruppe" i.S.d. § 60 Abs. 1 S.1 AufenthG anzusehen, als deren "Mitglied" der Kläger (sodann) durch die von der anderen Familie oder Clan ausgehenden Blutrache bedroht wäre.

Unter Zugrundelegung der Kriterien, die auch vom UNHCR aufgeführt werden (vgl. UNHCR-Richtlinien zum Internationalen Schutz: "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge) ist eine Familie oder ein "Verband" von Verwandten ("Clan") in aller Regel nicht als "soziale Gruppe" im Sinne des Flüchtlingsschutzes anzusehen. Eine Familie wird nicht als von der übrigen Gesellschaft deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener ("Gruppen"-) Identität wahrgenommen. Denkbar ist eine solche, für andere tatsächlich erkennbare Abgrenzbarkeit bei der Zugehörigkeit zu einem größeren Stamm, allenfalls dann, wenn (etwa) die Zugehörigkeit zu einem Stammesverbund regional einen besonderen Stellenwert hat und auch identifikationsstiftend wirkt.

Der Kläger könnte - wiederum unabhängig von den o. g. Gründen - einer privaten Verfolgung durch die Angehörigen des "Sindi"-Clans (-Familie) auch durch die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c AufenthG entkommen.

Outcome: 

Die Klage wurde insgesamt abgewiesen.

Subsequent Proceedings : 

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Observations/Comments: 

Die Entscheidung stammt zwar aus der Zeit vor Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie. Dennoch sind ihre Ausführungen weiterhin relevant, da die zugrunde liegende Bestimmung des § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG dem Art. 6 QRL nachgebildet ist.