Deutschland - Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, 29. Oktober 2010, 9 A 3642/06.A

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Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
29-10-2010
Citation:
9 A 3642/06.A
Additional Citation:
asyl.net/M17938
Court Name:
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
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Headnote: 

Selbst unter Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts kann nur dann von einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden, wenn der den Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist.

Facts: 

Die Kläger sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Es handelt sich um Frau und Kinder eines Kurden, der im Jahr 1996 als Flüchtling anerkannt wurde. Nach Asylantragstellung im Dezember 2000 wurden den Klägern im Januar 2001 ebenfalls der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der (mittlerweile abgeschaffte) Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten klagte gegen diese Entscheidung. Seine Klage führte im November 2003 schließlich zu einer Aufhebung der behördlichen Entscheidung durch das Oberverwaltungsgericht. Entsprechend widerriefen die deutschen Behörden ihre Entscheidung, mit der der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war. Zugleich stellten sie fest, dass keine Abschiebungshindernisse vorlagen. Die Kläger klagten erneut gegen diese Entscheidung.

Das Verwaltungsgericht Köln gab der Klage statt und stellte fest, dass die Kläger als Familienangehörige eines Flüchtlings Anspruch auf die Flüchtlingsanerkennung hätten (§ 26 Asylverfahrensgesetz). Die deutschen Behörden riefen gegen diese Entscheidung das Oberverwaltungsgericht an, da das Verwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren, in dem es allein um die Abschiebungshindernisse gegangen sei, nicht über die Frage des Flüchtlingsstatus hätte entscheiden dürfen.

Decision & Reasoning: 

Die Beweiserleichterung des Art. 4 (4) Qualifikationsrichtlinie kommt im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung. Selbst wenn unterstellt wird, dass ein Vorfall im Dezember 2000, bei dem die Kläger mit vorgehaltener Waffe bedroht wurden, tatsächlich so stattgefunden hat wie von den Klägern geschildert, gibt es keinen inneren Zusammenhang zwischen dieser früheren Verfolgungsgefahr und einer möglichen zukünftigen Gefahr eines ernsthaften Schadens. Die allgemeine Situation hat sich seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein grundlegend verändert. In jedem Fall besteht kein Zusammenhang zwischen der berichteten früheren Verfolgung und der möglichen Gefährdung, die sich aus einer Situation eines internen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz (Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie) ergibt.

Da die Beweiserleichterung nicht zum Tragen kommt, muss die Gefahr eines ernsthaften Schadens anhand des allgemeinen Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bewertet werden. Nach dem allgemeinen Maßstab liegt für die Kläger keine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, Schaden im Sinne von § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz (Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie) zu erleiden. Im Irak ist eine Vielzahl von Zivilpersonen von Gefahren betroffen, die von der angespannten Sicherheitslage ausgehen. Diese Gefährdung stellt daher eine allgemein Gefahr dar, von der die gesamte Bevölkerung des Irak, mit der Ausnahme der Kurdischen Autonomen Region, betroffen ist. Für die Anerkennung  subsidiären Schutzes (nach Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie) ist es aber erforderlich, dass eine erhebliche und individuelle Gefährdung vorliegt. Dies kann erst dann bejaht werden, wenn sich allgemeine Gefahren mit der Folge einer ernsthaften persönlichen Betroffenheit aller Bewohner der maßgeblichen Region verdichten oder sich durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Derartige individuelle, gefahrerhöhende Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Dies setzt aber eine solche Gefahrendichte voraus, dass ein in sein Heimatland zurückkehrender Iraker ernsthaft befürchten muss, gezielt oder zufällig selbst Opfer eines Terroranschlages oder sonstiger Kampfhandlungen zu werden.    

Vor diesem Hintergrund stellen sich die für die Situation im Irak und auch bezogen auf die Heimatstadt der Kläger typischen Selbstmordattentate und Bombenanschläge zwar als Akte willkürlicher Gewalt dar. Allerdings lässt sich keine Gefahrendichte feststellen, wie sie für die Annahme einer erheblichen individuellen Gefährdung erforderlich ist. Auch verfügen die Kläger über keine individuellen Umstände, die auf eine erhöhte Gefährdung im Verhältnis zu sonstigen Angehörigen der Zivilbevölkerung schließen ließen. 

Zwar ist nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010 und aufgrund anderer Auskünfte davon auszugehen, dass die Sicherheitslage im Irak noch immer verheerend ist. Besonders prekär ist die Lage in der Provinz Tamim mit der Hauptstadt Kirkuk. Es kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass die Gefahrendichte in Kirkuk so hoch ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Dies ergibt sich aus dem Verhältnis der ungefähren Größenordnung der Anschläge zur Gesamtgruppe der von den Anschlägen Betroffenen. Gemäß den von der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count erhobenen Daten gab es im Jahr 2009 in der Provinz Tamim 99 Anschläge, bei denen 288 Zivilisten getötet wurden. Unter Annahme einer Bevölkerungszahl von 900.000 bedeutet dies, dass je 100.000 Einwohner 31,9 Menschen getötet wurden. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in Tamim Opfer eines tödlichen Anschlags zu werden, lag damit bei 1 zu 3.100. Tamim ist damit die gefährlichste unter den irakischen Provinzen. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass die festgestellten Angriffe teils in erheblichem Umfang zu Verletzten geführt haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass auf jede bei einem Anschlag getötete Person fünf weitere verletzte Personen kommen. Zusammengenommen lag die Wahrscheinlichkeit, infolge stattfindender Kampfhandlungen in Leben oder körperlicher Unversehrtheit geschädigt zu werden, im Jahr 2009 in der Provinz Tamim bei 1 zu 520.

Selbst unter Annahme eines innerstaatlichen Konflikts in der Provinz Tamim kann nicht davon ausgegangen werden, dass der den Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht hat, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Als Kurden wären die Kläger in der Provinz Tamim auch nicht als Angehörige einer Minderheit gefährdet, und sie gehören keiner sonstigen Gruppe mit gefahrerhöhenden Umständen an.

Outcome: 

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln wird aufgehoben, da die Kläger keinen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus haben und auch kein Abschiebungsschutz zu gewähren ist.

Subsequent Proceedings : 

Keine (Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen).

Case Law Cited: 

Germany - High Administrative Court Nordrhein-Westfalen, 21 March 2007, 20 A 5164/04.A