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Home ›Deutschland - Bundesverwaltungsgericht, 20 februar 2013, 10 C 23.12
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European Union Law > EN - Recast Qualification Directive, Directive 2011/95/EU of 13 December 2011 > Article 10
Zu einer schwerwiegenden Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Bst. a der Richtlinie 2004/83/EG gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, den Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit der öffentlichen Religionsausübung.
Der erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung kann bereits die Qualität einer Verfolgung erreichen. Da die Verfolgung schon in dem Verbot als solchem liegen kann, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben und Freiheit) nicht an.
Der 1979 geborene Antragsteller gehört der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft an. Er reiste im Jahr 2000 in Deutschland ein und beantragte Asyl. Der Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sein Vorbringen nicht glaubhaft sei. Daneben sei keine Gruppenverfolgung von Ahmadis in Pakistan festzustellen.
Nach mehreren erfolglosen Folgeanträgen stellte der Antragsteller im Jahr 2008 einen weiteren Asylantrag und trug vor, dass sich durch das Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG die Rechtslage zu seinen Gunsten geändert habe. Die Behörde lehnte die Durchführung eines weiteren Verfahrens ab, das Verwaltunsgericht gab dem Antragsteller aber Recht und verpflichtete die Behörde, ihm den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Der Verwaltunsgerichtshof Baden-Württemberg bestätigte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Dezember 2011. Er schloss sich der Auffassung an, dass durch die Umsetzung der Richtlinie 2004/83/EG in Deutschland eine relevante Änderung der Rechtslage eingetreten sei. Zwar seien nicht alle Ahmadis in Pakistan im Sinne einer Gruppenverfolgung von relevanten Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Dem Antragsteller sei es aber ein inneres Anliegen, seinen Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben. Für ihn bestehe daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr religiöser Verfolgung.
Die Behörden wandten sich mit der Revision an das Bundesverwaltungsgericht. Im Mai 2012 setzte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verschiedene Fragen zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und zu Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG vor. Der EuGH beantwortete die Fragen mit Urteil vom 5. September 2012.
Der EuGH hat mit Urteil vom 5. September 2012 (C-71/11 und C-99/11) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG angesehen werden können. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann demnach so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann. Auf diese Fälle verweist Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/83/EG als Anhaltspunkt, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten.
Zu den Handlungen, die laut EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit in diesem Sinne darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Laut EuGH ist es mit der Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie nicht vereinbar, wenn Verfolgungshandlungen unterschiedlich beurteilt werden, je nachdem, ob sie in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreifen. Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Auslegung und hält daher an seiner vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen Rechtsauffassung nicht mehr fest. Entsprechend ist bei der Bestimmung der Handlungen, die als Verfolgung gelten können, nicht entscheidend, ob ein bestimmter Bereich der Religionsausübung betroffen ist. Vielmehr kommt es nur auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Antragsteller an.
Eine Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit kann vorliegen, wenn der Antragsteller aufgrund der Ausübung dieser Freiheit tatsächlich Gefahr läuft, strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden. Der Antragsteller muss dabei den Glauben nach einer möglichen Rückkehr in das Herkunftsland nicht in einer Weise ausüben, die ihn der Gefahr einer Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Kann die Verfolgung schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Antragstellers letztlich nicht an. Dies entspricht dem Verständnis des britischen Upper Tribunal in seinem Grundsatzurteil vom 14. November 2012 (MN and others) und dem des Supreme Court of the United Kingdom betreffend die Verfolgung von Homosexualität vom 7. Juli 2010 (HJ).
Laut EuGH muss die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis aber zur Wahrung der religiösen Identität für den Antragsteller besonders wichtig sein. Dies setzt nach dem Verständnis des Senats nicht voraus, dass der Antragsteller „innerlich zerbrechen“ oder schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er zum Verzicht auf die Glaubensausübung gezwungen wäre. Allerdings muss die konkrete Glaubenspraxis für den Antragsteller ein zentrales Element seiner religiösen Identität sein. Eine enge Verbundenheit mit dem Glauben reicht nicht aus, wenn die Religion nicht in einer Weise ausgeübt wird, die den Antragsteller im Fall der Rückkehr der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde.
Der Antragsteller muss zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen, dass er es für sich selbst als verpflichtend empfindet, den Glauben zur Wahrung seiner religiösen Identität zu praktizieren. Die religiöse Identität stellt eine „innere Tatsache“ dar, die sich nur aus dem Vorbringen des Antragstellers sowie dadurch feststellen lässt, dass Rückschlüsse von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung vorgenommen werden.
Der Fall wird an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen, der unter Beachtung der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze neu entscheiden muss.
Der VGH Baden-Württemberg (A 11 S 757/13; asyl.net, M20906) hat mit Urteil vom 12.06.2013 erneut das Urteil des Verwaltungsgerichts bestätigt und die Berufung der Behörde erneut zurückgewiesen.
See also asyl.net M20535
(Unofficial) English translation available at: http://www.bverwg.de/informationen/english/decisions/10_c_23_12.php
UK - Upper Tribunal, 13 November 2012, MN and others (Ahmadis - country requirements - risk) Pakistan CG, [2012] UKUT 00389 (IAC)
Germany - Federal Administrative Court, 20 January 2004, 1 C 9.03