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Home ›Deutschland - Bayrischer Verwaltungsgerichtshof, 16.08.2016, 12 CS 16.1550
§ 42a
§ 42f
Germany - Verwaltungsgerichtsordnung VwGO - § 80
§ 123
Urteil über die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und Ausführungen zum Verfahren der Feststellung der Minderjährigkeit
Die Parteien streiten über die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling im zuständigen Jugendamt Dachau. Er ist afghanischer Staatsbürger. Der Antragsteller erhob am 16.03.2016 Klage zum Verwaltungsgericht München mit dem Antrag, den Bescheid des Antraggegners vom 18.01.2016, mit dem sein Antrag vom 12.01.2016 auf Inobhutnahme abgelehnt wurde, aufzugeben und den Antragsgegner zu verpflichten, ihn ärztlich untersuchen zu lassen. Ferner wurde beantragt, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig in Obhut zu nehmen.
Der Beschluss des VG München vom 07.07.2016 (M 18 E 16.2804) wird aufgehoben und der Antrag auf Abänderung des Beschlusses (M 18 E 16.1207) wird abgelehnt. Dadurch wird der Beschluss des VG vom 02.05.2016 wiederhergestellt, kraft dessen der Antragsgegner verpflichtet ist, den Antragsteller auch weiterhin in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
· Das Gericht stellt fest, dass gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr.3, § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die nach Deutschland einreisen, (vorläufig) vom Jugendamt in Obhut zu nehmen sind, unabhängig von der Flüchtlingseigenschaft.
· Das Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit ist in § 42f Abs.1, 2 SGB VIII ausdrücklich gesetzlich normiert:
· A) Zunächst wird das Alter durch Einsicht in den Pass und in andere Ausweisdokumente festgestellt § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB VIII.
· B) wenn diese fehlen, bleibt nur die Selbstauskunft des Betroffenen (OVG Bremen, B. V. 18.11.2015, 2 B 221/15, 2 PA 223/15)
· C) Begegnet diese Zweifeln, ist eine Alterseinschätzung und – feststellung in Form einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vorzunehmen (§ 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII)
· D) In Zweifelsfällen ist auf Antrag eines Betroffenen/seines Vertreters/auf Amts wegen durch das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 2 SGB VIII). Dem Jugendamt kommt kein Ermessen zu.
· Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist dabei nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme.
· Das Gericht verdeutlicht, wie die einzelnen Schritte des Verfahrens zur Feststellung der Minderjährigkeit zu verstehen sind und wie sie ausgeführt werden müssen.
· Zu B) Ein in sich widersprüchlicher Vortrag des Betroffenen über sein Alter kann vor dem Hintergrund, dass dem Geburtsdatum in vielen Herkunftsländern der südlichen Hemisphäre keine besondere Bedeutung beigemessen wird und entsprechenden Angaben in Ausweispapieren deshalb ein Beweiswert nicht zukommt, nicht zum Nachteil des betroffenen Antragstellers gewertet werden. Der Betroffene kann trotzdem noch minderjährig sein. Solche Zweifel in der Selbstauskunft können Anlass nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII sein, eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen.
· Zu C) Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme, durchgeführt von min. zwei Mitgliedern des Jugendamtes, erstreckt sich über das äußere Erscheinungsbild sowie die Konfrontation des Betroffenen mit den Zweifeln seiner Eigenangabe und die Möglichkeit des Betroffenen, sich dazu zu äußern. Maßgeblich ist der Gesamteindruck aus den gewonnen Informationen.
· Das Gericht stellt nur wenige Optionen dar, wonach die Inaugenscheinnahme zweifelsfrei wäre. Zweifel bestehen immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen könnte, der Betroffene sei noch minderjährig, da gem. Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 1 Satz 2 RL 2013/32/EU zwingend davon auszugehen ist, dass der Betroffene noch minderjährig ist, solange Zweifel nicht ausgeräumt werden können (und deshalb weiterbestehen).
Zu D) Eine exakte Altersbestimmung ist nie möglich, auch nicht durch ärztliche Gutachten. Das Gericht statuiert deshalb einen Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren). Mindestens in diesem Bereich ist mit Blick auf die auf das Jugendhilferecht entsprechend anwendbare Zweifelsregelung (Art. 25 Abs. 5 Unterabs. 1 RL 2013/32/EU) vom Vorliegen eines Anwendungsfalls des $ 42 f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auszugehen. Außerdem bedarf es eines Sicherheitszuschlages von zwei bis drei Jahren darüber hinaus, aufgrund der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden.
Antrag angenommen; Beschluss des VG München wird aufgehoben; Antrag auf Abänderung des Beschlusses abgelehnt.
This case summary was written by Shaghayegh Kazemloo.
· Comment: Wiesner, SGB VIII, 5th edition, 2015 – appendix: www.sgb-wiesner.de
· Comment: Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6th edition - § 42f Rn. 5
· Comment: Kirchhoff in: jurisPK, SGB VIII, § 42f Rn. 20
· Comment: Winkler in: BeckOK Sozialrecht, § 42f SGB VIII, Rn. 9
· Comment: Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig GG, Art 19 p. 4 Rn. 185 ff., 191ff., 195, July 2014
· Comment: Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 160ff., 177 ff., 195, 204 ff., 211, 8th edition 2014
· Comment: Kirchhoff in: jurisPR – SozR 2/2016 annotation 1 p. 6
· Trenzcek in: Münder/Meynsen/Trenzcek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7th edition 2013, § 42 Rn. 22
· Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen – 116. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (Recommendations for the handling of unaccompanied minor refugees - 116th working day of the Federal Labor Office of the National Youth Offices)
· BT-Drs. 18/6392, p. 20
Germany - Oberlandesgericht München – 15.03.2012 – 26 UF 308/12
Germany - Oberverwaltungsgericht Berlin Brandenburg 01.04.2016 – OVG 6 S 7.16 – OVG 6 M 20.16
Germany - Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 04.03.2013 - OVG 6 S 3.13, OVG 6 M 5.13
Germany - Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen – 29.09.2014 – 12 B 923/14
Germany - Oberverwaltungsgericht Bremen – 22.02.2016 – 1 B 303/15
Germany - Bayrischer Verwaltungsgerichtshof – 05.07.2016 – 12 CE 16.1186
Germany - Administrative Court München, decision from 23.09.2014 – 12 CE 14.1833
Germany - Administrative Court Bremen, decision from 18.11.2015 – 2 B 221/15 – AuAS 2016, 6