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Home ›Deutschland – Verwaltungsgericht Hannover, 19. Januar 2017, 11 B 460/17
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union > Article 4
Council of Europe Instruments > EN - Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms > Article 13
Germany – VwGO (Administrative Court Act) - § 80 (2) sentence 1 No. 3
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 75 (1)
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 71a (1)
(2) and (4)
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 36 (1)
(3) and (4)
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 29 (1) No. 5
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 26a
Germany – VwVfG (Administrative Procedure Act) - § 51 (1) to (3)
Germany – GG (Basic Law/German Constitution) – Art. 16a (2) sentence 1
Germany – AsylG (Asylum Act) - § 25
1. Die Qualifizierung eines in Deutschland gestellten Asylantrages als Zweitantrag iSd § 71a AsylG setzt in verfassungskonformer Auslegung voraus, dass bei der Durchführung des ersten Asylverfahrens in einem grundsätzlich als sicherer Drittstaat eingestuften Land auch tatsächlich die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt gewesen ist.
Dies ist nicht der Fall, wenn das Asylverfahren in dem Drittstaat zum Zeitpunkt der Entscheidung systemische Mängel aufwies, aufgrund derer der Asylbewerber der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv. Art. 4 EU-Grundrechtcharta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt gewesen ist.
2. Auch im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, ist eine persönliche Anhörung des Antragstellers erforderlich. Eine solche Anhörung ist nur entbehrlich, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entweder aufgrund der vom Drittstaat eingeholten Informationen zur sachlichen Entscheidung bereits beurteilen kann, ob es sich bei dem erneuten Antrag um ein neues Vorbringen handelt, oder aufgrund ausführlicher schriftlicher Ausführungen des Antragstellers bereits zuverlässig und sicher bestimmen kann, dass das Vorbringen eindeutig offensichtlich unschlüssig ist.
Der Antragsteller pakistanischer Herkunft stellte am 14. Oktober 2016 einen Asylantrag in Deutschland, welcher am 27. Dezember 2016 mit Bescheid vom BAMF unter Androhung der Abschiebung als unzulässig abgelehnt wurde.
Als Grundlage für die Ablehnung führte das BAMF an, dass der Antragsteller bereits erfolglos ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat iSd. §26a AsylG, namentlich in Griechenland, durchlaufen hätte, da die beiden in den Jahren 2013 und 2014 dort gestellten Anträge abgelehnt worden waren. Auch die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland sah das BAMF als nicht gegeben.
Gegen diese Abschiebungsandrohung erhob der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht (VG) Hannover und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
Das VG ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage an, da nach Ansicht des Gerichts ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids des BAMF bestanden. Dies ergebe sich zum einen aus der fälschlichen Qualifikation des vom Kläger in Deutschland gestellten Asylantrages als Zweitantrag und zum anderen aus der fehlenden persönlichen Anhörung vor Erlass des Bescheides.
Zu ersterem führte das Gericht aus, dass die Einordnung eines Asylantrages als Zweitantrag nach § 71a I AsylG voraussetze, dass ein Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat iSd. § 26a AsylG erfolglos abgeschlossen worden ist. Griechenland gelte als Mitgliedstaat der Europäischen Union gem. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG auch grundsätzlich als solch sicherer Drittstaat. Diese Einstufung beruhe dabei auf der Annahme, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäischen Menschenrechtskonvention in allen Mitgliedstaaten nicht nur gelten, sondern auch prinzipiell Anwendung fänden. Grundsätzlich ließe sich diese verfassungsrechtlich verankerte Feststellung auch nicht im Einzelfall durch ein individuelles Vorbringen widerlegen. Allerdings habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fünf spezifische Ausnahmen von diesem Grundsatz festgelegt, die aufgrund besonderer Umstände vom Gesetzgeber nicht vorhersehbar waren und somit auch nicht im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung berücksichtigt werden konnten.
Zu diesen Fallgruppen zählen nach dem BVerfG auch Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung iSd. Art. 3 EMRK greift und dadurch selbst zum „Verfolgerstaat“ wird (s. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996, 2 BvR 1938/93, Rn. 189). Eine unmenschliche Behandlung iSd. Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK könne dabei nach der Rechtsprechung des EGMR auch in Mängeln bei der Prüfung von Asylanträgen liegen sowie in der Gefahr, dass ein Antragsteller in sein Herkunftsland abgeschoben wird, ohne dass die Begründetheit seines Asylantrages ernsthaft geprüft worden ist und ohne dass er einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen konnte (EGMR, M.S.S. v. Belgium and Greece, Urteil vom 21. Januar 2011, Nr. 30969/09, Rn. 321). In derselben Entscheidung stellte der EGMR fest, dass das griechische Asylsystem zum Zeitpunkt der Entscheidung unter derartig erheblichen strukturellen Mängeln litt, sodass eine unmenschliche Behandlung der jeweiligen Antragsteller vorlag.
Unter Bezugnahme auf die AIDA Country Reports aus den Jahren 2013-2015, den Human Rights Report 2014 des U.S. Department of State sowie den Umstand, dass das Bundesinnenministerium (BMI) bis 2017 an der Aussetzung von Dublin-Überstellungen nach Griechenland festhielt, stellte das Gericht fest, dass zum Zeitpunkt des Verfahrens des Antragstellers im Jahr 2013 noch keine entscheidend Verbesserung des Asylsystems in Griechenland eingetreten war. Insbesondere profitierte der Kläger aufgrund von Verzögerungen bei der Umsetzung auch noch nicht von der 2011 verabschiedeten Reform des griechischen Asylverfahrensrechts. Daher liege kein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vor, der zu einer Qualifizierung des in Deutschland gestellten Antrages als Zweitantrag führen könne. Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht daraus, dass der Kläger im Jahre 2014 einen zweiten Asylantrag in Griechenland gestellt hatte, da dieser Antrag bereits als unzulässig abgelehnt worden war.
Hinsichtlich der fehlenden persönlichen Anhörung hielt das Gericht eingangs fest, dass auch im Verfahren zur Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, grundsätzlich eine persönliche Anhörung des Antragstellers erforderlich sei. Dies sei nur dann ausnahmsweise nicht der Fall, wenn das BAMF von vorn herein über alle Informationen zum ersten Asylverfahren verfügt, die erforderlich sind, um nach § 51 VwVfG beurteilen zu können, ob ein neues Vorbringen vorliegt. Ferner könne von der Anhörung abgesehen werden, wenn schriftliche Ausführungen des Antragstellers vorlägen, die detailreich genug sind, um zuverlässig und sicher beurteilen zu können, dass das Vorbringen eindeutig offensichtlich unschlüssig it. Sodann kam das Gericht zu dem Schluss, dass vorliegend keine dieser beiden Ausnahmen gegeben ist, da das BAMF weder über Informationen zum sachlichen Inhalt der ersten Asylentscheidung der griechischen Behörden verfügte noch über eine ausführliche schriftliche Stellungnahme des Antragstellers.
Dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung des BAMF wurde stattgegeben.
Die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens (Az.: 11 A 456/17) steht, soweit ersichtlich, noch aus.
This case summary was wrriten by Ann-Christin Bölter, a LLM graduate of Queen Mary University, London.
This case summary was proof read by Julia Oberndorfer, a law student at Leibniz Universität Hannover.
BMI: Pressemitteilung vom 19. Januar 2011 (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/12/dublinue...)
Asylum Information Database (AIDA): National Country Report Greece
(31. Juli 2014)
AIDA: National Country Report Greece (1. Dezember 2013)
AIDA: National Country Report Greece (27. April 2015)
AIDA: National Country Report Greece (1. Juni 2013)
U.S. Department of State: Human Rights Report 2014 (25. Juni 2015)
BMI: Pressemitteilung vom 14. Dezember 2012 (http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2012/12/dublinue...)
Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Dublin lebt“ (13. Januar 2017)
Germany – Administrative Court Aachen, 4 August 2015, 8 L 171/15.A
Germany – Administrative Court Munich, 26 October 2016, M 17 K 15.31601
Federal Constitutional Court, 14 May 1996 – 2 BvR 1938/93 and 2315/93