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Home ›Deutschland – Verwaltungsgericht Berlin, 15. März 2019, VG 23 L 706.18 A
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Das den Mitgliedstaaten in Art. 17 II Dublin III-VO eingeräumte Ermessen zum Selbsteintritt kann sich unter bestimmten Voraussetzung zu einer Pflicht zum Selbsteintritt verdichten. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates nach Kapitel III der Dublin III-VO wegen des Ablaufs von Fristen dieser Verordnung oder der hierzu erlassenen Durchführungsverordnung entfallen würde und der Asylantragsteller auf den Ablauf dieser Fristen keinen Einfluss hatte.
Der Fall betrifft vier Antragsteller, die alle syrische Staatsangehörige sind. Antragsteller 1 und 2 sind miteinander verheiratet, Antragstellerin 3 ist ihre volljährige Tochter. Alle drei halten sich in Griechenland auf. Der vierte Antragsteller ist der minderjährige Sohn bzw. Bruder der anderen Antragsteller. Er wohnt in Berlin und hat dort subsidiären Schutzstatus erhalten.
Die Antragsteller 1 bis 3 stellten im Oktober 2017 Asylanträge in Griechenland. Dabei äußerten sie den Wunsch, dass ihre Asylanträge in Deutschland geprüft werden, da sie eine Familienzusammenführung mit dem vierten Antragsteller beabsichtigen. Dieser äußerte ebenfalls schriftlich den Wunsch nach einer Familienzusammenführung.
Am 15.01.2018 stellte das griechische Migrationsministerium ein Übernahmegesuch nach Art. 21 I Dublin-III-VO für die Antragsteller 1 bis 3 an das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Bzgl. der Antragsteller 1 und 2 wurde dies mit dem Wunsch auf Zusammenführung mit dem minderjährigen Sohn begründet. Hinsichtlich der dritten Antragstellerin führte die Behörde aus, dass diese schwer traumatisiert sei, weil sie in Syrien Inhaftierung, Vergewaltigung und Folter erlitten habe und daher auf ihre Eltern angewiesen sei.
Mit Schreiben vom 18.01.2018 lehnte das BAMF seine Zuständigkeit ab. Es bat zugleich um zusätzliche Dokumente über den Nachweis der Familienzugehörigkeit, Fingerabdrücke und Lichtbilder. Es wies darauf hin, dass die Anfrage nach Erhalt der Dokumente erneut geprüft werde.
Am 02.02.2018 schickte die griechische Behörde einen sog. Holding letter. In diesem bat es das BAMF darum, die Fälle noch nicht abschließend zu bearbeiten, da es mehr Zeit benötige, um die gewünschten Informationen zusammenzutragen. Die geforderten Nachweise wurden am 26.02.2018 an das BAMF übersandt.
Im Oktober 2018 lehnte das BAMF die Anträge der Antragsteller 1 bis 3 ab. Es begründete dies mit dem Ablauf der Frist zur Einreichung gem. Art. 5 II Dublin-III-Durchführungs-VO.
Die griechische Behörde teilte daraufhin mit, dass sie die Ablehnung nicht akzeptiere und legte die Anträge zur erneuten Überprüfung vor. Sie begründete dies damit, dass das BAMF in der ersten Ablehnung vom 18.01.2018 mitgeteilt habe, dass weitere Unterlagen benötigt würden und der Fall nach Vorlage dieser Unterlagen erneut geprüft werde.
Im November 2018 legten die Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht Berlin ein. Sie beantragten, dass das BAMF die ablehnende Entscheidung aufheben und sich für ihre Asylantragsprüfung für zuständig erklären solle.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
Das Gericht führt in der Zulässigkeit zunächst näher aus, dass die Antragsteller antragsbefugtseien, weil Art. 9 und 17 II Dublin-III-VO ihnen subjektive Rechte vermitteln. Art. 27 Dublin-III-VO gebiete zwar nur Rechtsmittel gegen Überstellungsentscheidungen, stehe einem darüberhinausgehenden Rechtsschutz durch das nationale Recht aber nicht entgegen. Vielmehr fordere Art. 47 GRCh einen wirksamen Rechtsbehelf.
In der Begründetheit stellt das VG Berlin fest, dass Deutschland gem. Art. 9 Dublin-III-VO für die Asylanträge der Antragsteller 1 und 2 zuständig sei. Die Voraussetzungen der Norm seien erfüllt: Als Eltern des minderjährigen vierten Antragstellers sind sie Familienangehörige iSv Art. 2 lit. g) Dublin-III-VO. Antragsteller 4 genießt in Deutschland subsidiären Schutzstatus. Alle drei haben schriftlich den Wunsch kundgetan, dass ihre Asylanträge in Deutschland geprüft und ihre Familie zusammengeführt werden soll.
Die Zuständigkeit Deutschlands sei auch nicht wegen Fristablaufs entfallen. Die griechische Seite habe zunächst die Dreimonatsfrist aus Art. 21 I, 20 II Dublin-III-VO eingehalten. Die Zuständigkeit sei auch nicht wegen Fristablaufs gem. Art. 21 I UAbs. 3 Dublin-III-VO auf Griechenland übergegangen.
Das VG Berlin führt weiter aus, dass die Zuständigkeit auch nicht aus anderen Gründen auf Griechenland übergegangen sei. Die griechische Behörde habe gegen die ablehnende Entscheidung des BAMF remonstriert. Nach Art. 5 II Dublin-III-Durchführungs-VO ist der ersuchende Mitgliedstaat berechtigt, eine erneute Prüfung seines Gesuchs zu verlangen, wenn er sich auf weitere Unterlagen berufen kann. Dies muss innerhalb von drei Wochen nach der ablehnenden Entscheidung passieren. Die griechische Seite schickte innerhalb dieser Frist den Holding Letter an das BAMF. Die angefragten Unterlagen kamen jedoch erst nach Fristablauf an.
Auf die Frage, ob der Holding letter zur Fristwahrung genügte oder ob auf die angefragten Unterlagen abzustellen war, komme es nach Ansicht des VG Berlin jedoch nicht an. Die Antwort der deutschen Behörden erfolgte nämlich erst über ein halbes Jahr nach dem Remonstrationsersuchen der griechischen Behörde. Die Antwortfrist gem. Art. 5 II Dublin-III-Durchführungs-VO beträgt aber nur zwei Wochen, sodass die deutsche Antwort mit enormer zeitlicher Verspätung eintraf.
Das VG Berlin wendet sich anschließend der Rechtsprechung des EuGH zu. Danach gehe die Zuständigkeit nach Ablauf der zweiwöchigen Frist grundsätzlich auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Danach wäre vorliegend Griechenland aufgrund des Fristablaufs zuständig geworden. Das VG führt jedoch aus, dass sich die entsprechenden EuGH-Urteile auf Fallkonstellationen beziehen, in denen sich der Ablauf entsprechender Fristen zugunsten der Antragsteller auswirkte und sich diese darauf beriefen. In der vorliegenden Fallkonstellation, die in der Literatur auch als „Dublin reversed“ bezeichnet wird, liegees jedoch genau andersherum: Der Ablauf der Fristen wirkt sich zu Lasten der Antragsteller aus und verhindert eine Familienzusammenführung. Dies sei nicht mit dem Sinn und Zweck des Dublin-Regimes zu vereinbaren. Dieses diene nicht nur der bloßen Zuständigkeitsverteilung von Asylanträgen zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch den Interessen der Schutzsuchenden, denen die Zuständigkeitsnormen subjektive Rechte verleihen.
Ein Auslegungsergebnis, wonach das Versäumen von Fristen das Menschenrecht auf Familienzusammenführung aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK versagt, sei abzulehnen. Dafür spreche auch, dass es die mitgliedstaatliche Behörde andernfalls selbst in der Hand hätte, ihre Zuständigkeit dadurch zu vereiteln, dass sie die ohnehin sehr kurz bemessene Antwortfrist von zwei Wochen verstreichen lässt.
Die besondere Wichtigkeit der Familieneinheit und das besonders hohe Schutzgut des Kindeswohls sprechen im Konflikt zwischen Familieneinheit und Fristbeachtung für eine Pflicht des ersuchten Mitgliedstaates zur Annahme des Aufnahmegesuchs auch nach Fristablauf.
Die Antragsteller 1 und 2 haben daneben zumindest einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber Deutschland aus Art. 17 II Dublin-III-VO. Hierbei verweist das VG Berlin auf Erwägungsgrund 17 der Dublin-III-VO, wonach die Mitgliedstaaten insb. aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können. Eine besondere Verdichtung von humanitären Gründen bzw. Umständen, die einen Härtefall begründen, können im Einzelfall eine Ermessensreduzierung bei der Anwendung von Art. 17 II Dublin-III-VO begründen. Dem stehe auch nicht die Rechtsprechung des EuGH in Fall C-578/16 entgegen, weil dessen Fallkonstellation nicht mit der vorliegenden vergleichbar sei. Vorliegend sprechen aufgrund der engen familiären Verbundenheit der Antragsteller humanitäre Gründe für eine Familienzusammenführung.
Bezüglich der Antragstellerin 3 ergebe sich die Zuständigkeit Deutschlands aus Art. 17 II Dublin-III-VO. Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles hat die Antragstellerin 3 einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegen das BAMF. Die von ihr erlittene Gewalt stelle einen besonders schwerwiegenden Härtefall dar, er es ihr nicht zumutbar mache, ohne familiäre Unterstützung in einem griechischen Flüchtlingslager zu bleiben. Sie ist erst 23 Jahre alt, hat immer mit ihren Eltern zusammengelebt und noch keine eigene Familie gegründet.
Schließlich führt das VG Berlin aus, dass sich die Eilbedürftigkeit aus dem Umstand ergebe, dass die Anhörungstermine der Antragsteller 1 bis 3 zum Asylbegehren in Griechenland unmittelbar bevorstehen. Sobald ein griechischer Bescheid über die Anträge ergangen ist, unterfallen die Antragsteller nicht mehr der Dublin-III-VO. Dadurch würde eine Familienzusammenführung nach der Dublin-III-VO unmöglich.
Antrag stattgegeben.
Die Entscheidung behandelt die rechtliche Frage, ob Schutzsuchende aus den Fristenregelungen der Dublin-III-VO subjektive Rechte herleiten können und bejaht dies. Die Besonderheit des Urteils liegt darin, dass sich die Antragsteller in diesem Fall nicht auf den Ablauf einer Frist zu ihren Gunsten berufen, sondern ein möglicher Fristablauf zu ihren Lasten stattfinden würde. Das VG Berlin betont in dieser Lage die Intention der Dublin-III-VO, nicht nur ein bloßer Zuständigkeitsverteilungsmechanismus zu sein, sondern auch die Interessen der Schutzsuchenden zu schützen und leitet daraus ab, dass ein Fristablauf nicht zu Lasten von Schutzsuchenden ins Feld geführt werden dürfe und eine Pflicht zum Selbsteintritt begründe.
Siehe zu dieser Problematik auch den Aufsatz von Vogt/Nestler in NVwZ 2019, S. 859ff.
Diese Zusammenfassung wurde von Ass.-Jur. Lisa-Marie Lührs MLE geschrieben. Sie ist Doktorandin an der Universität zu Köln.
Zitierte Rechtsprechung des Mitgliedsstaats
Deutschland – Bundesverfassungsgericht, 17.01.2017, 2 BvR 2013/16
Deutschland – Bundesverwaltungsgericht, 27.06.1984, BVerwG 1 ER 310.84
Deutschland – VGH Bayern, 03.12.2015, 13a B 15.50124
Deutschland – OVG Niedersachsen, 15.11.2016, 8 LB 92/15
Deutschland – VG Berlin, 23.11.2017, VG 23 L 836.17 A
Deutschland – VG Berlin, 02.01.2018, VG 23 L 905.17 A
Deutschland – VG Düsseldorf, 21.02.2018, 22 L 442/18.A
Deutschland – VG Freiburg, 08.05.2018, A 4 K 11125/17
Deutschland – VG Halle (Saale), 12.07.2018, 7 B 125/18 HAL
Deutschland – VG Minden, 05.06.2015, 6 K 182/15.A
Deutschland – VG Münster, 20.12.2018, 2 L 989/18.A
Deutschland – VG Wiesbaden, 09.03.2018, 4 L 444/18.WI.A
Deutschland – VG Würzburg, 02.11.2017, W 2 E 17.50674
CJEU - C‑47/17 and C‑48/17, X & X
CJEU - C 670/16, Mengesteab, 26 July 2017
CJEU - C-578-16, C. K. and Others, 16 February 2017