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Home ›Deutschland – Bundesverwaltungsgericht, 27. April 2016, 1 C 24.15
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Germany - Administrative Court Act (VwGO) - Art. 80.5
Germany - Administrative Court Act (VwGO) - Art. 80.7
Germany - Administrative Court Act (VwGO) - Art. 137.1
Germany - Administrative Court Act (VwGO) - Art. 137.3
Germany - Administrative Court Act (VwGO) - Art. 113.1
Germany - Asylum Act - Art. 77
Germany - Asylum Act - Art. 71a
Germany - Asylum Act - Art. 34(a)(2)
Germany – (VwGO) Administrative Court Act - Art. 86 (1)
Ist ein Mitgliedstaat nach den einschlägigen Dublin-Bestimmungen für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, z.B. nach Art. 29 Abs.2 Dublin III-VO, kann sich der Schutzsuchende jedenfalls dann auf die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats berufen, wenn die (Wieder-)Aufnahmebereitschaft eines anderen (unzuständigen) Mitgliedstaats nicht positiv feststeht.
In einem solchen Fall ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt, ein Anspruch des Betroffenen auf Prüfung seines Asylantrages durch den zuständigen Mitgliedstaat. Dies ist unabhängig von der Frage, ob den Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin III-VO generell individualschützende Wirkung zukommt.
Der Kläger, ein iranischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig und die Anordnung seiner Abschiebung nach Ungarn.
Seinen Antrag hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit für unzulässig erklärt. Ein Eurodac-Abgleich hatte ergeben, dass der Antragsteller bereits zuvor in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte und Ungarn hatte auch seine Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers erklärt.
Gleichzeitig ordnete das BAMF die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an.
Gegen diesen Bescheid des BAMF erhob der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht und beantragte vorläufigen Rechtsschutz, beides erfolglos.
Gegen diese Entscheidungen wiederum legte der Kläger Berufung beim Oberverwaltungsgericht (OVwG) ein, welches die aufschiebende Wirkung gegen die Anordnung der Abschiebung anordnete und in der Hauptsache den Bescheid des BAMF aufhob.
Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Dublin III-VO sei mittlerweile von Ungarn auf Deutschland übergegangen, da der Kläger nicht innerhalb von sechs Monaten zurück nach Ungarn überstellt worden sei.
Eine Rechtsverletzung des Klägers ergebe sich dabei zumindest aus dem materiellen unionsrechtlichen Anspruch des Klägers auf Überprüfung seines Begehrens durch einen Mitgliedstaat. Denn mangels jeglicher Hinweise auf eine forstbestehende Aufnahmebereitschaft eines Mitgliedstaates, könne in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass diese nach Ablauf der Überstellungsfrist fortbestehe.
Daher könne die Frage, ob und in welchem Umfang die Dublin-Regelungen Individualschutz entfalten, dahin gestellt bleiben.
Das BAMF legte gegen die Entscheidung des OVwG Revision zum BVerwG ein.
Das BVerwG hielt zunächst fest, dass das OVwG zutreffend davon ausgegangen ist, dass die Klage des Antragstellers nicht nur zulässig, sondern auch begründet war, da der angefochtene Bescheid rechtswidrig war und den Kläger in eigenen Rechten verletzte.
Hinsichtlich der Zulässigkeit führte das Gericht aus, dass das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch entfallen ist, dass die Überstellungsfrist des Art. 29 I Dublin III-VO inzwischen verstrichen war. Die Entscheidung des BAMF habe dadurch weder ihre Regelungswirkung verloren noch sich auf sonstige Weise erledigt.
Bezüglich der Unzulässigkeit des Asylantrages wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit nach § 27a AsylG führte das Gericht aus, dass unabhängig von der möglichen ursprünglichen Zuständigkeit Ungarns nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 iVm. Kapitel III Dublin III-VO, diese in jedem Fall mit Ablauf der Überstellungsfrist von 6 Monaten nach Art. 29 Abs.2 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen sei.
Maßgeblicher Zeitpunkt für den Fristbeginn war vorliegend nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO die Annahme des Wiederaufnahmeersuchens durch die ungarischen Behörden. Daran ändert auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Berufungsgericht nichts, da die Überstellungsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war. Ein solches Hinausschieben des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO sei nur dann möglich, wenn bei Eintritt von dessen Tatbestandvoraussetzungen die nach Alt. 1 gesetzte Frist bereits abgelaufen ist. Ansonsten ließe sich der an den erfolgslosen Ablauf der Überstellungsfrist geknüpfte Zuständigkeitswechsel durch Ingangsetzen einer neuen Frist verhindern.
Der Kläger hat unter den gegebenen Umständen ferner einen Anspruch darauf, dass ein Asylantrag in Deutschland geprüft wird.
Dabei kann offenbleiben, ob den Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin III-VO generell individualschützende Wirkung zukommt und der Schutzsuchende in jedem Fall eine Prüfung durch den zuständigen Mitgliedstaat verlangen kann (so GA Sharpston in den Schlussanträgen zu C-63/15 <Ghezelbasch> und C-155/15 <Karim>).
Denn der nach den Dublin-Bestimmungen zuständige Mitgliedstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen (unzuständigen) Mitgliedstaat verweisen, wenn dessen (Wieder- )Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht. Dies ergibt sich als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal einerseits aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems, nämlich der Gewährleistung eines effektiven Zugangs zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes und der zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz. Anderseits folgt dies aus der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt. Hiernach kann ein Schutzsuchender sich zwar nicht aussuchen, in welchem Mitgliedstaat sein Antrag auf internationalen Schutz geprüft wird, er hat aber einen Anspruch darauf, dass sein Antrag innerhalb der EU geprüft wird. Könnte sich der Schutzsuchende trotz fehlender (Wieder-) Aufnahmebereitschaft eines Mitgliedstaates nicht auf die Zuständigkeit des anderen Staates berufen, entstünde die Situation eines „refugee in orbit“, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Antrages als zuständig ansieht.
Zudem sei auch die tatrichterliche Annahme des Berufungsgerichts, dass Ungarn nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme bereit ist, nicht zu beanstanden. Die entsprechende Verfahrensrüge der Beklagten entspreche schon nicht den formellen Anforderungen, da keinerlei Ausführungen gemacht werden, wie und inwiefern eine weitere Klärung der Aufnahmebereitschaft hätte erfolgen sollen.
Auch materiell-rechtlich vermag die Rüge nicht zu überzeugen, da das Berufungsgericht eigene Ermittlungen angestellt hat und das BAMF seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist.
Angesichts der klaren unionsrechtlichen Vorgaben sei, mangels einer positiv feststehenden fortbestehenden (Wieder-)Aufnahmebereitschaft, hinsichtlich des Individualschutzes von einem "acte clair" auszugehen. Daher sei auch keine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die bereits anhängigen Vorabentscheidungsverfahren zur Frage, inwieweit den Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin III-VO generell individualschützende Wirkung zukommt, notwendig.
Da das BAMF den Asylantrag zu Unrecht als unzulässig abgelehnt hat, liegen auch die Voraussetzungen für eine Abschiebungsanordnung nicht vor.
Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes Rheinland-Pfalz vom 23. November 2015 wird zurückgewiesen.
Das BVerwG hat am selben Tag in einem anderen Verfahren den Beschluss gefasst, dem EuGH die Frage, welche Wirkungen ein rechtzeitiger Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf den Lauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO hat, zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. April 2016, 1 C 22.15).
This case summary was written by Ann-Christin Bölter, an LLM student in Immigration Law at Queen Mary University, London.
The summary was proof read by Ana-Maria Bucataru, LLM student in Immigration Law at Queen Mary University, London.
Implementing Regulation (EC) No. 1560/2003, Art. 9(2)
Germany – Federal Administrative Court, 19 August 1997, 7 B 261.97
Germany – Federal Administrative Court, 16 November 2015, 1 C 4.15
Germany – Federal Administrative Court, 27 October 2015, 1 C 32.14
Germany – Federal Administrative Court, 11 September 2007, 10 C 8.07
CJEU - C-63/15 Mehrdad Ghezelbash v Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie