Deutschland – Bundesverwaltungsgericht, 11. Juli 2018, BVerwG 1 C 18.17

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
11-07-2018
Citation:
BVerwG 1 C 18.17
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
Relevant Legislative Provisions:
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Recital 10
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Recital 11
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Recital 13
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 2 > Art 2 (e)
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 4 > Art 4.3
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 12 > Art 12.2
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 12 > Art 12.4
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 13 > Art 13.1
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 13 > Art 13.2
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 13 > Art 13.3
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 14 > Art 14.2
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 14
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 17 > Art 17.4 (b)
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 23 > Art 23.2 (b)
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 23
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 39 > Art 39.1
European Union Law > EN - Asylum Procedures Directive, Council Directive 2005/85/EC of 1 December 2005 > Art 39
European Union Law > EN - Recast Qualification Directive, Directive 2011/95/EU of 13 December 2011
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Recital (18)
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union > Article 47
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Recital (25)
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 2
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 4
European Union Law > EN - Recast Qualification Directive, Directive 2011/95/EU of 13 December 2011 > Article 4
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 14
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 15
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 17
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 31
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 46
European Union Law > EN - Recast Asylum Procedures Directive 2013/32/EU of the European Parliament and of the Council > Article 51
National / Other Legislative Provisions:
Germany - §§ 42
44a
68
75
86
87
101
113
137
154
172 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) (Version of 19 March 1991
last changed 22 December 2016);
Germany - §§ 3
11
24
25
29
78 AsylG (Version of 2 September 2008
last changed 10 November 2016)
Germany - § 88 SGG
Germany - § 11 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes 19 June 1968
Germany - Art. 19
101 German Basic Law
Germany - §171b GVG
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Headnote: 

Das Bundesverwaltungsgericht hat zu klären, ob das allein auf die Verpflichtung zur Bescheidung des Asylantrags gerichtete Klagebegehren zulässig ist. Die Frage, ob neben diesem Klagebegehren auch die Möglichkeit besteht, durch eine Klage die Beklagte direkt zur Gewährung internationalen Schutzes oder der Feststellung von Abschiebeverboten zu verpflichten, ist nicht Inhalt der Entscheidung. Im Ergebnis kommt das Gericht zu der Erkenntnis, dass die Beklagte ohne zureichenden Grund nicht über den Asylantrag entschieden und die Klägerin ein Rechtsschutzbedürfnis für ihre Untätigkeitsklage hat.

Facts: 

Die Klägerin wurde 1994 in Afghanistan geboren und reiste 2014 nach Deutschland, wo sie am 22. Oktober 2014 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen Asylantrag stellte. Zwar fand eine Anhörung zur Bestimmung des für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaates statt, jedoch unterblieben eine weitere Anhörung, sowie eine Entscheidung über den Asylantrag durch das BAMF.

Am 11. August 2016 erhob die Klägerin eine Untätigkeitsklage vor dem VG Augsburg (Az: Au 3 K 16.31394) mit dem Ziel die Beklagte zu verpflichten, das Verfahren fortzusetzen und den Antrag zu bescheiden. In der ersten Instanz wurde die Klage als unzulässig abgewiesen. Das Gericht vertrat dabei die Ansicht, dass es auch ohne vorherige behördliche Anhörung in der Sache abschließend entscheiden könne, wodurch der Klägerin das nötige Rechtsschutzbedürfnis fehle.

Der Verwaltungsgerichtshof München (Urteil vom 23. März 2017 Az: VGH 13 a B 16.30951) gab der Berufung der Klägerin statt. Anders als die erste Instanz brachte dieser vor, dass die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), nach der in asylrechtlichen Verfahren ausnahmslos „durchzuentscheiden“ (hic) sei, angesichts der europarechtlichen Entwicklungen im Asylrecht, zwischenzeitlich überholt sei.

Die Beklagte begründete eine Revision mit einem fehlenden Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin. Ihrer Meinung nach werde mit der Bescheidung des Antrags lediglich eine bereits kraft Gesetzes bestehende Verpflichtung der Beklagten verfolgt. Vielmehr müsse eine Klage auf einen gerichtlichen Anspruch gerichtet sein, der über die bereits gesetzlich bestehende Verpflichtung hinausgehe.

Decision & Reasoning: 

Das BVerwG erläutert, dass das Vorliegen eines zureichenden Grundes für die verzögerte Bescheidung nach objektiven Kriterien zu beurteilen sei. Zu den vielfältigen beachtenswerten Gründen, die im Einklang mit der Rechtsordnung stehen müssen, zähle auch die besondere Dringlichkeit der Angelegenheit für die Klägerin. Angesichts der bis dahin schon 28 Monate ohne Entscheidung, sowie der fehlenden zureichenden Gründe auf Seiten der Beklagten bestätigt das BVerwG die Bewertung des VGH München.

Daneben führt das Gericht aus, dass ausweislich der Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2b RL 2005/85/EG, Art. 31 Abs. 6 RL 2013/32/EU, § 24 Abs.4 AsylG der Normgeber eine Frist von sechs Monaten als noch im Sinne des § 75 Satz 1 VwGO angemessene Dauer des behördlichen Verfahrens ansehe. Künftig solle Art 31 Abs. 3 bis 5 RL 2013/32/EU eine Orientierung geben, wann eine Überschreitung der Sechsmonatsfrist auch für die Anwendung des § 75 Satz 1 VwGO als sachlich gerechtfertigt hinzunehmen ist.

Bei Untätigkeit der Behörde liege in der Regel nur ein Rechtsschutzbedürfnis für die auf Vornahme gerichtete Untätigkeitsklage vor. Für die Beschränkung auf eine Bescheidungsuntätigkeitsklage bedürfe es laut BVerwG eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses, welches im vorliegenden Fall gegeben sei.

Bei materiellen Rechten, auf die bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ein rechtlich gebundener Anspruch auf behördliche Zuerkennung bestehe, sei die Untätigkeitsklage grundsätzlich auf eine konkrete behördliche Sachentscheidung zu beziehen. Anders, als bei Klagen nach § 88 SGG, werde eine generelle Beschränkung auf eine reine Bescheidungsklage bei der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO auch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht anerkannt. Laut BVerwG setze § 113 Abs. 5 VwGO ebenfalls voraus, dass im Regelfall die Untätigkeitsklage als Vornahmeklage und nicht als reine Bescheidungsklage zu erheben sei. Die Norm bringe zum Ausdruck, dass gerichtlicher Rechtsschutz grundsätzlich auf die Sachentscheidung selbst gerichtet ist. Das BVerwG halte § 44a VwGO vorliegend für  nicht anwendbar.

Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin ergäbe sich zudem daraus, dass sie nach Stellung ihres Asylantrages nicht zu ihren Asylgründen angehört worden sei und das BAMF auch sonst keine aus den beigezogenen Verwaltungsvorgängen erkennbaren Schritte unternommen hätte, um das Verfahren in irgendeiner Weise zu fördern. Die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den anknüpfenden Verfahrensgarantien rechtfertige es in der Gesamtschau ein Rechtsschutzbedürfnis für eine reine Bescheidungsklage anzunehmen.

Aufgrund der verfahrensrechtlichen Besonderheiten könne das gerichtliche Verfahren das behördliche Anhörungsverfahren nicht ersetzen. Das kontradiktorisch ausgestaltete gerichtliche Verfahren basiere auf dem Grundsatz der Öffentlichkeit und sei auf eine transparente Kontrolle behördlicher Entscheidungen durch den gesetzlichen Richter ausgelegt. Durch den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit des behördlichen Verfahrens könne eine ähnliche Ausgestaltung der Verfahren nur im Rahmen des § 171b GVG zum Schutze der Privatsphäre des Asylantragsstellers erfolgen. Auch verhindere der Grundsatz des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 GG bei der Bestimmung der Anhörungsperson auf die individuellen Befindlichkeiten des Asylantragsstellers Rücksicht zu nehmen. Die zeitliche Ausdehnung einer Anhörung mithilfe eines Dolmetschers sei hingegen kein Argument für die fehlende Ersetzbarkeit des behördlichen Verfahrens. Zudem seien der verwaltungsgerichtliche Konzentrationsgrundsatz des § 87 Abs. 1 VwGO, sowie die eingeschränkte prozessuale Überprüfbarkeit der gerichtlichen Entscheidung nicht mit der Pflicht vereinbar, den Bericht über die persönliche Anhörung im Verfahren so rechtzeitig zu übermitteln, dass im Sinne des Art. 14 Abs. 2 RL 2005/85/EG ein Rechtsbehelf vorbereitet und eingelegt werden kann. Auch die strikteren Präklusionsvorschriften des gerichtlichen Verfahrens stünden einer Ersetzbarkeit im Wege.

Schließlich liege eine Verletzung von Bundesrecht nicht darin, dass die Beklagte verpflichtet wurde über den Asylantrag zu entscheiden, ohne dass ihr eine neuerliche Frist gesetzt wurde.

Outcome: 

Revision der Beklagten wird zurückgewiesen. 

Observations/Comments: 

Diese Zusammenfassung wurde von Mario Kühn geschrieben. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei. 

Other sources cited: 

Kopp/Schenke, VwGO, 23. Edition 2017 § 75 Rn. 13;

Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Edition 2014 § 75 Rn 47;

Schoch/Schneider/Bier, VwGO, June 2017, § 75 Rn. 8;

Göbel-Zimmermann/Skrzypczak, ZAR 2016, 357;

Kopp/Schenke, VwGO, 23. Edition. 2017 § 113 Rn. 166;

Jaber, ZAR 2017, 318;

Kopp/Schenke, VwGO, 23. Edition 2017 § 172 Rn. 5

Case Law Cited: 

Germany - BVerfG, Federal Administrative Court, 14 December 2016, BVerfGE 157, 18;

Germany - BVerfG, Federal Administrative Court, 10 February 1998, BVerfGE 106, 171;

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 16 April 1985, BVerwGE 71, 180

Germany - BVerfG, Federal Administrative Court, 25 February 1981, BVerfGE 56, 216;

Germany - BVerfG, Federal Administrative Court, 13 March 1993, InfAuslR 1993, 229

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 6 July 1998, BVerwGE 107, 128;

Germany - BSG, Federal Social Court, 26 August 1994, BSGE 75, 56

Germany - BVerwG, 17 January 1989, Federal Administrative Court, BVerwGE 81, 164;

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 1 June 2017, 1 C 22.16;

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 23 March 2017, BVerwGE 158, 271;

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 23 July 1991, NVwZ 1991, 1180;

Germany - BVerwG, Federal Administrative Court, 24 February 1994, 5 C 24.92;

Germany - BVerwG, 23 March 1973, Federal Administrative Court 42, 108;

Germany - Federal Administrative Court (BVerwG), decision from 26 October 1989 – 9 B 405.89

Federal Administrative Court (Bundesverwaltungsgericht), Urteil dated 11.09.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251