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Home ›Österreich - Verfassungsgerichtshof, V 152-153/2015-19, Entscheidung vom 13. Juni 2016
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 2
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Austria -Section 21 Abs. 9 FPG-DVO
Austria -Section 76 Aliens Police Act 2005
Austria -Section 76 FPG as amended by BGBl. I 70/2015
Austria -Art. 139 Federal Constitutional Law
Austria -Art. 18(2) B-VG
Austria -Art. 1 Constitutional law for the protection of personal liberty
Der Verfassungsgerichtshof entscheidet, dass die Bedenken des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich der Gesetzmäßigkeit des § 9a Abs. 4 und § 21 Abs. 9 FPG-DVO idF BGBl. II 143/2015, welche den Begriff der „Fluchtgefahr“ im Rahmen der Schubhaft nach § 76 FPG näher definieren, unzutreffend sind. Insbesondere stellt der Verfassungsgerichtshof fest, dass § 9a Abs. 4 FPG-DVO auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht.
Die Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht haben mit der (Schubhaft)Beschwerde, die ihnen zugestellten Mandatsbescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. Juni 2015 bzw. 14. Juli 2015, durch welche ihnen Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung angeordnet wurde, angegriffen. Nach Vollzug der Schubhaft wurden die Beschwerdeführer am 3. Juli 2015 bzw. 22. Juli 2015 nach Italien abgeschoben.
Trotz bereits erfolgter Abschiebung stellte das Bundesverwaltungsgericht, bei dem die Beschwerden anhängig waren, am 6. November 2015 bzw. 13. November 2016 einen Verordnungsprüfungsantrag gemäß Art. 139 Abs. 1 Nr. 1 Bundesverfassungsgesetz (B-VG) an den Verfassungsgerichtshof.
Das Bundesverwaltungsgericht hat Bedenken an der Gesetzmäßigkeit des § 9a Abs. 4 und § 21 Abs. 9 der Verordnung der Bundesministerin für Inneres zur Durchführung des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG-DVO), BGBL. II 450/2005 idF BGBl. II 143/2015.
Insbesondere zweifelt das BVG die Zuständigkeit der Bundesministerin für Inneres für den Erlass von § 9a Abs. 4 FPG-DVO sowie das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage für den Erlass der Verordnung an. Es beanstandet, dass § 9a Abs.4 FPG-DVO „nur zum Schein“ § 76 FPG aF umsetzt, in Wirklichkeit aber Art. 2 lit. n Dublin-III- Verordnung. Dies werfe dann die Frage auf, ob die Umsetzung einer EU-Verordnung im Wege einer Rechtsverordnung erfolgen darf oder es eines formellen Gesetzes bedurft hätte. Eine Rechtsverordnung sei nach ständiger Rechtsprechung des VfGH nur zulässig, wenn eine hinreichend bestimmte Grundlage in einem Gesetz gegeben sei, was hier nicht der Fall gewesen sein soll. Außerdem verstoße die Regelung gegen Art. 1 Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit (PersFrBVG) und Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)
§ 76 Fremdenpolizeigesetz (FPG), in der bis 19. Juli 2015 geltenden Fassung, betrifft die Voraussetzungen, unter welchen Fremde in Schubhaft genommen werden dürfen. Die Kriterien, unter welchen die Behörden „Sicherungsbedarf“ oder „Fluchtgefahr“ annehmen durften, waren nicht im FPG selbst, aber in § 9a Abs. 4 FPG-DVO, in der am 29. Mai 2015 in Kraft getretenen Novelle, geregelt (Anmerkung: das Merkmal „Fluchtgefahr“ war explizit kein Tatbestandsmerkmal in der alten Fassung des § 76 FPG). Gemäß § 21 Abs. 9 FPG-DVO sollte § 9a Abs. 4 mit Ablauf des Tages der Kundmachung (28. Mai 2015) in Kraft treten und mit Ablauf des 19. Juli 2015 außer Kraft treten. In der neuen Fassung des § 76 FPG, welcher seit dem 20. Juli 2015 gilt (erlassen im Rahmen des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2015), sind die Voraussetzungen der „Fluchtgefahr“ in § 76 Abs. 3 FPG geregelt.
Zulässigkeit der Anträge
Zunächst beschäftigte sich der VfGH mit der Frage, ob die Vorlageanträge des BVG zulässig waren. Entgegen der Ansicht der Bundesministerin für Inneres, die vorbringt, dass die zu überprüfende Norm, § 9a Abs. 4 FPG-DVO, bereits außer Kraft getreten war zu dem Zeitpunkt als das BVG sich spätestens mit der zweiten Beschwerde zu befassen hatte (22. Juli 2015, d.h. eine Woche nach Zustellung der Haftanordnung), stellt der VfGH klar, dass der maßgebliche Zeitpunkt, die Sach- und Rechtslage bei Erlass des Bescheids war. Zu dem Zeitpunkt war bei beiden Beschwerden § 9a Abs. 4 FPG-DVO noch in Kraft.
Gesetzmäßigkeit der Norm „in der Sache“
In einem ersten Schritt setzt sich der VfGH mit der Frage auseinander, in wieweit Österreich seiner Verpflichtung nachgekommen ist Art. 2 lit. n Dublin-III-Verordnung, welcher „Fluchtgefahr“ als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem möglicherweise durch Fluch entziehen könnte, bezeichnet umzusetzen. Was die Umsetzung von Art. 2 lit. n Dublin-III- Verordnung durch § 76 FPG aF angeht, verweist der VfGH auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Februar 2015 (Ro 2014/21/0075), wo festgestellt wurde, dass § 76 Abs. 2 Nr. 2 und 4 FPG aF „für sich betrachtet keine gesetzlich festgelegten objektiven Kriterien für die Annahme von Fluchtgefahr iSd Dublin-III-Verordnung enthielten. Daraus wurde abgeleitet, dass die Umsetzung „gesetzlich festgelegte Kriterien“ verlange und ein Rückgriff auf in der Rechtsprechung entwickelte Kriterien nicht ausreichend sei.
Auf dieses Urteil reagierte die Bundesministerin für Inneres mit einer Novelle des § 76 FPG, welche am 21. Mai 2015 vom Nationalrat beschlossen wurde um am 20. Juli 2015 in Kraft trat. Erst nach dem Beschluss durch den Nationalrat wurde die Novelle des FPG-DVO bekanntgemacht, welche in § 9a Abs. 4 die gleiche Definition on Fluchtgefahr, wie die sich im Gesetzgebungsverfahren befindliche Novelle des § 76 FPG. Dass § 9a Abs. 4 FPG-DVO nur provisorisch gelten solle, wurde durch die Regelung des § 21 Abs. 9 deutlich gemacht.
Der VfGH beschäftigte sich hauptsächlich mit der Frage, ob bereits § 76 FPG aF eine ausreichende gesetzliche Grundlage für § 9a Abs. 4 FPG-DVO darstellt. Er führt an, dass § 76 FPG aF den Begriff der Fluchtgefahr zwar nicht wörtlich definiert, aber bestimmt, dass Schubhaft für Fremde angeordnet werden darf, „sofern dies notwendige ist, um das Verfahren […] zu sichern“ und „wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie würden sich dem Verfahren entziehen“. Dies entspräche aber den gleichen Voraussetzungen wie sie in Art. 2 lit. n Dublin-III-Verordnung genannt sind. Dementsprechend war § 76 FPG aF als gesetzliche Grundlage für § 9a Abs. 4 FPG-DVO anzusehen.
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt der VfGH auch bei näherer Betrachtung der Tatbestandsmerkmale des § 76 Abs. 2a FPG aF, wonach Schubhaft über Asylbewerber anzuordnen ist, sofern diese zur Sicherung des Verfahrens notwendig war. Die Notwendigkeit resultiere aber dann aus der Situation, dass die betroffene Person sich sonst dem Verfahren entziehen würde. Folglich ging auch § 76 Abs. 2A FPG aF von der (als Sicherungsbedarf) verstandene Fluchtgefahr als Voraussetzung der Haftanordnung aus.
Der VfGH hält folglich fest, dass § 76 FPG aF eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Erlassung einer Durchführungsverordnung darstellt, für Tatbestände, die denklogisch das Vorliegen von Fluchtgefahr wie in § 76 FPG aF beschrieben voraussetzen. Ob die Bundesministerin für Inneres mit § 9a Abs. 4 FPG-DVO auch die Umsetzung der Dublin-III-Verordnung bezweckte, ist folglich unbeachtlich.
Der VfGH hält die Bedenken bezüglich der Gesetzmäßigkeit von § 9a Abs. 4 FPG-DVO für unzutreffend.
Der VfGH weist die zulässigen Anträge des BVG als in der Sache nicht zutreffend ab. Die vom BVG erhobenen Bedenken bezüglich der Gesetzmäßigkeit von § 9a Abs. 4 und § 21 FPG-DVO idF BGBl. II 143/2015 treffen nicht zu.
Verfasst von Chad Heimrich (LLM Student, Queen Mary University of London).
Austria - VwGH, Ro 2015/21/0004, 19 May 2015
Austria - VwGH, Ro 2014/21/0080, 24 March 2015
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