Österreich- Verfassungsgerichtshof, 14 März 2012, U466/11 ua

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
14-03-2012
Citation:
VfGH 14.03.2012, U466/11 ua
Additional Citation:
VfSlg 19.632
Court Name:
Verfassungsgerichtshof
National / Other Legislative Provisions:
TFEU - Art 267
TEU - Art 6
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 18 Abs 2
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 133 Abs 1
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 139
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 140
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 144
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 144a
Austria - Staatsgrundgesetz - Art 18
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 3
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 8
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 10
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 41(7)
Printer-friendly versionPrinter-friendly versionPDF versionPDF version
Headnote: 

Der Verfassungsgerichtshof legt seine Ansicht zur Natur der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (CGEU) enthaltenen Rechte bzw. Grundsätze und zur Zuständigkeit für die Entscheidung über Auslegungsfragen im Zusammenhang mit der CGEU dar. Er bejaht die Frage, ob die CGEU insbesondere Art 47 CGEU in Asylverfahren anwendbar ist, wenn auch im konkreten Fall keine derartige Verletzung festgestellt wurde.

Facts: 

Die Antragstellerin, eine Staatsangehörige der Volksrepublik China, stellte am 30.03.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der zweite Antragsteller, ebenfalls aus der Volksrepublik China, stellte am 03.11.2010 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Das Bundesasylamt wiese beide Anträge vollinhaltlich ab und wies die AntragstellerInnen nach China aus. Dagegen erhoben beide jeweils eine Beschwerde an den Asylgerichtshof und beantragten darin unter anderem die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

Ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – gestützt auf § 41 Abs. 7 Asylgesetz 2005 –wies der Asylgerichtshof die Beschwerden mit Erkenntnissen vom 18.01.2011 bzw. 20.04.2011 vollinhaltlich ab und erließ eine Ausweisungsentscheidung.

Gegen diese Entscheidungen erhoben die AntragstellerInnen jeweils Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und machten die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gemäß Art 47 CGEU geltend.

Decision & Reasoning: 

Zunächst prüfte der Verfassungsgerichtshof, ob er für die Prüfung einer behaupteten Verletzung der CGEU zuständig ist. In diesem Zusammenhang verwies er auf die rechtliche Gleichrangigkeit der CGEU mit den Verträgen gemäß Art 6 Abs 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV). Auch aus Art 51 CGEU folge die unmittelbare Anwendbarkeit für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.

Der Verfassungsgerichtshof schloss sich der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) zum Vorrang unmittelbar anwendbarer Vorschriften vor dem Recht der Mitgliedssaaten an. Gleichzeitig ergebe sich aus seiner früheren Rechtsprechung, dass ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht grundsätzlich einfachgesetzlicher Vorschriften gleichzuhalten sei, weswegen ein solcher nicht in seine Zuständigkeit fiele. Jedoch könne diese Rechtsprechung auf folgenden Gründen nicht auf die CGEU übertragen werden:

Die CGEU enthalte „Rechte“ und „Grundsätze“ (welche Bestimmungen wie zu qualifizieren seien und welche Bedeutung dieser Unterscheidung zukomme, sei noch nicht im Einzelnen geklärt). Jedenfalls erfülle die CGEU für den Anwendungsbereich des Unionsrechtes jedenfalls in vielen ihrer Bestimmungen („den Rechten“) die gleiche Aufgabe wie verfassungsgesetzliche Rechte für den österreichischen Rechtsbereich. Angesichts der Intention weitgehender inhaltlicher Identität und formulierungsmäßiger Anlehnung der CGEU an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Österreich in Verfassungsrang steht, ergäben sich Schutzbereiche mit weitest gehenden Überschneidungen. Es widerspräche dem Konzept der österreichischen Bundesverfassung einer zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn der Verfassungsgerichtshof über vielfach inhaltsgleiche Rechte der CGEU nicht absprechen könnte.

Auf Grund der innerstaatlichen Rechtslage und des Äquivalenzgrundsatzes könnten auch die von der CGEU garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte geltend gemacht werden und bilden im Anwendungsbereich der CGEU einen Prüfungsmaßstab in Normprüfungsverfahren. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die betreffende Garantie der CGEU in ihrer Formulierung und Bestimmtheit den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gleiche. Sonst sei aufgrund der unterschiedlichen normativen Struktur der CGEU-Bestimmungen im Einzelfall zu entscheiden, wo die CGEU einen Prüfmaßstab bilden könne, da manche nicht verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, sondern „Grundsätzen“ gleichen würden (z.B. Art 22 oder Art 37).

Allerdings verweist der Verfassungsgerichtshof darauf, dass die Grundrechte, welche sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten oder auch aus völkerrechtlichen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte ergeben, schon vor dem CGEU im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze beachtlich gewesen seien. Die von der CGEU garantierten Rechte seien nun aber als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte zu qualifizieren. Es sei die Rechtsprechung des EuGH maßgebend, wobei der EuGH sowie der Verfassungsgerichtshof wiederum die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen hätten.

In Fragen der CGEU sei der Verfassungsgerichtshof vorlagepflichtiges Gericht im Sinne von Art 267 Abs 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nicht der Asylgerichtshof, der bloß vorlageberechtigt sei. Wenn der Verfassungsgerichtshof Zweifel an der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift – einschließlich der CGEU – habe, lege der Verfassungsgerichtshof die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Bei Zweifel vor dem Hintergrund der EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR und anderer Höchstgerichte, entscheide der Verfassungsgerichtshof ohne Einholung einer Vorabentscheidung. Keine Vorlagepflicht an den EuGH bestehe dann, wenn eine Rechtsfrage nicht entscheidungserheblich sei. Dies sei im Bereich der CGEU dann der Fall, wenn ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht, insbesondere ein Recht der EMRK, den gleichen Anwendungsbereich wie ein Recht der CGEU habe. In diesem Fall erfolge die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs auf Grund der österreichischen Verfassungslage, ohne dass eine Vorabentscheidung einzuholen wäre.

Konkret auf die Beschwerden bezogen hält der Verfassungsgerichtshof unter Verweis auf die Qualifikations- und Verfahrensrichtlinie fest, dass das Asylverfahren in den Anwendungsbereich der CGEU falle. Wenn für Asylverfahren zwar nicht Art 6 EMRK anwendbar sei, so ergebe sich dennoch aus Art 47 Abs 2 CGEU ein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Nach der Rechtsprechung des EGMR könne eine mündliche Verhandlung dann unterbleiben, wenn außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigen. Dies wäre z.B. bei Entscheidungen der Fall, die ausschließlich rechtliche oder in hohem Maße technische Fragen aufwerfen oder wenn das Vorbringen erkennen lasse, dass die Durchführung einer Verhandlung nichts zu einer weiteren Klärung der Entscheidungsgrundlage beitragen würde. Hingegen sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich, wenn die im Verwaltungsverfahren oder in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen – allenfalls mit ergänzenden Erhebungen – nicht aus den Verwaltungsakten beantwortet werden können, und insbesondere, wenn der Sachverhalt zu ergänzen oder die Beweiswürdigung mangelhaft sei.

Der Verfassungsgerichtshof kam zum Schluss, dass er keine Bedenken betreffend die Verfassungsmäßigkeit des § 41 Abs 7 Asylgesetz 2005 hege (Anm.: § 41 Abs 7 Asylgesetz 2005 regelt, wann eine mündliche Verhandlung vor dem Asylgerichtshof unterbleiben kann, nämlich wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht). In den beiden konkreten Fällen fänden sich keine Hinweise, dass der Asylgerichtshof durch das Absehen von der Verhandlung ein Verfassungsgesetz verletzt hätte; denn in Fällen, wo bereits Parteiengehör gewährt worden sei und der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergäbe, dass das Vorbringen tatsachenwidrig sei, stehe das Absehen von einer mündlichen Verhandlung im Einklang mit Art 47 Abs 2 CGEU.

Outcome: 

Die Beschwerden wurden abgewiesen.

Observations/Comments: 

Das Erkenntnis erregte unter anderem Aufsehen, weil der Verfassungsgerichtshof darin sich selbst (zumindest indirekt) als zuständig – und den EuGH als unzuständig – bezeichnete, bestimmte in der CGEU verankerte Rechte bzw. Grundsätze (und damit EU-Recht) auszulegen.

Darüber hinaus waren viele im Asylrecht Tätige enttäuscht, dass der Verfassungsgerichtshof keine klarere Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Asylsachen formuliert hat.

Case Law Cited: 

ECtHR - Micallef v Malta, Application No. 17.056/06

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.215

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.456/1999

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 6.757/2002

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 16.391/2001

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.657/1999

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.139/1998

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 14.889/1997

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 16.100/2001

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 16.050/2000

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.450/1999

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.810/2000

Austria - Constitutiona Court (VfSlg), 15.753/2000

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.189/1998

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 18.541/2008

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 15.036/1997

Austria - Constitutional Court (VfSlg) 14.805/1997

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 14.390/1995

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 14.886/1997

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 18.613/2008

ECtHR - Golder v United Kingdom, 21 February 1975, § 29, Series A No. 18

CJEU - C-34/02 Pasquini

CJEU - C-63/08 Pontin

CJEU - C-402/05 P & C-415/05 P Yassin Abdullah Kadi & Al Barakaat International Foundation v Council & Commission

UK - CILFIT v Ministry of Health Case 283/81 (1982) ECR 3415

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 17.225/2004

Austria - Constitutional Court (VfSlg), 11.500/1987

ECtHR - Helmers v. Sweden, Application No. 11.826/85

CJEU - C-188/10, C-189/10 Melko/Abdeli

ECtHR - Miller v. UK, Application No. 55.853/00

ECtHR - Döry v. Sweden, Application No. 28.394/95

ECtHR - Süßmann v Germany, Application No. 20.024/92

ECtHR - Bracci v. Italy, Application No. 36.822/02

ECtHR - Zumtobel v. Austria, Application No. 12.235/86

ECtHR - Pauger v. Austria, Application No. 16.717/90

CJEU - 222/84 Johnston

CJEU - C-351/92 Graff

CJEU - C-495/03 Intermodal

CJEU - C-232/06 C-233/06 Jonkman

CJEU - C-201/02 Wells

CJEU - C-292/97 Karlsson

Austria - Constitutional Court (VfGH), 13 June 1995, B877/95

CJEU - 4/73 Nold

CJEU - C-326/96 Levez

CJEU - 45/76 Comet

CJEU 33/76 Rewe

CJEU - 106/77 Simmenthal II

CJEU 11/70 Internationale Handelsgesellschaft

CJEU - 6/64 Costa/ENEL

CJEU - C-555/07, Kücükdeveci

Austria - Administrative Court, 23 October 2000, 99/17/0193

Austria - Constitutional Court (VfGH), December 1997, G23-26/97

Austria - Constitutional Court (VfGH) 4 October 1997, G 322, G323/97

Austria - Constitutional Counrt (VfGH), 12 April 1997, G400/96, G44/97