Österreich - Verfassungsgerichtshof, 13 Dezember 2011, U1907/10

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
13-12-2011
Citation:
VfGH 13.12.2011, U1907/10
Additional Citation:
VfSlg 19.591
Court Name:
Verfassungsgerichtshof
Relevant Legislative Provisions:
International Law > 1951 Refugee Convention > Art 1F
International Law
International Law > 1951 Refugee Convention
Council of Europe Instruments > EN - Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms > Article 2
Council of Europe Instruments > ECHR (Frist Protocol) > Art 6
Council of Europe Instruments > EN - Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms > Article 3
Council of Europe Instruments > ECHR (Frist Protocol) > Art 13
European Union Law > EN - Qualification Directive, Directive 2004/83/EC of 29 April 2004 > Art 17
European Union Law > EN - Qualification Directive, Directive 2004/83/EC of 29 April 2004 > Art 19
National / Other Legislative Provisions:
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 1997 - § 7
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 1997 - § 8 Abs 1
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 2 Abs 3
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 6 Abs 1 Z 2
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 6 Abs 1 Z 3
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 9 Abs 2
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 9 Abs 2 Z 2
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 9 Abs 3
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 9 Abs 4
Austria - Bundes-Verfassungsgesetz (Federal Constitutional Law) - Art 144a
Austria - Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit (Federal Constitutional Law on the Protection of Personal Freedom)
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 15
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 17
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 73
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 127
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 134
Austria - Strafgesetzbuch (Penal Code) - § 141 Abs 1
Austria - Verfassungsgerichtshofgesetz (Constitutional Court Act) - § 19 Abs 4
Austria - Verfassungsgerichtshofgesetz (Constitutional Court Act) - § 88a
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Headnote: 

Infolge von sechs Verurteilungen wegen minderschwerer Eigentumsdelikte wurde dem Antragssteller der subsidiäre Schutz aberkannt, da er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen würde. Der Verfassungsgerichtshof hob diese Entscheidung als verfassungswidrig auf: Der Asylgerichtshof habe die entsprechende nationale Bestimmung nicht richtlinienkonform interpretiert, da die begangenen Delikte nicht von der von Art 17 Qualifikationsrichtlinie geforderten Schwere seien.

Facts: 

Der Antragssteller stellte am 17.08.2004 einen Asylantrag in Österreich. Das Bundesasylamt wies diesen Asylantrag ab, wogegen der Antragssteller Berufung erhob. Der Unabhängige Bundesasylsenat gewährte dem Antragssteller kein Asyl; aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Tschetschenien wurde ihm jedoch (für ein Jahr) der subsidiäre Schutz erteilt. Beim zweiten Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes wurde der subsidiäre Schutz aberkannt und die Abschiebung in die Russische Föderation für unzulässig erklärt. Diese Entscheidung begründete das Bundesasylamt mit den sechs rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen (Diebstahl, versuchter Diebstahl, Anstiftung bzw. Beitrag zum Diebstahl, Unterschlagung, versuchte Entwendung).

Gegen die Aberkennung des subsidiären Schutzes erhob der Antragssteller Beschwerde an den Asylgerichtshof. Der Asylgerichtshof wies die Beschwerde ab, u.a., da der Antragssteller ein Wiederholungstäter sei, bei dem mit keiner Änderung zum Positiven zu rechnen sei. Die Art und die Anzahl der Straftaten indiziere eine negative Einstellung zur österreichischen Rechtsordnung. Bei einer Gesamtbetrachtung stelle der Antragssteller im Hinblick auf die Vielzahl der Verurteilungen eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne von § 9 Abs 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (idF BGBl. I Nr. 122/2009) dar.

Gegen diese Entscheidung des Asylgerichtshofes erhob der Antragssteller Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Darin brachte er vor, dass der Asylgerichtshof § 9 Abs 1 Z 2 Asylgesetz nicht richtlinienkonform ausgelegt habe, da nach Art 17 der Qualifikationsrichtlinie nur „massive Straftaten“ zur Aberkennung des subsidiären Schutzes führen könnten, nicht jedoch mehrere minderschwere Eigentumsdelikte; durch eine solche Fehlinterpretation der nationalen Bestimmung habe der Asylgerichtshof Willkür geübt. Weiters brachte der Antragssteller vor, die vom Asylgerichtshof angewendete gesetzliche Bestimmung (betreffend der Aberkennung) sei verfassungswidrig.

Decision & Reasoning: 

Der Verfassungsgerichtshof begründete seine Entscheidung wie folgt:

Der Antragssteller sei zwar jeweils für die Grunddelikte verurteilt worden, nicht jedoch für die jeweils schweren und damit strenger bestraften Begehungsformen. Die vom Antragssteller begangenen Delikte seien jeweils mit einer Freiheitsstrafe von maximal sechs Monaten bedroht.

Die Aberkennungstatbestände des § 9 Abs 2 Asylgesetz 2005 würden der Umsetzung der in Art 19 Abs 3 iVm Art 17 Abs 1 der Qualifikationsrichtlinie normierten Ausschluss- bzw. Aberkennungstatbeständen dienen. Bei der Anwendung von nationalem Recht, das Richtlinien umsetzt, seien Behörden und Gerichte verpflichtet, das nationale Recht im Licht und gemäß der Zielsetzung der Richtlinie auszulegen.

Laut Art 17 Abs 1 der Qualifikationsrichtlinie seien Personen vom Genuss des subsidiären Schutzes auszuschließen, die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (lit a) bzw. schwere Straftaten (lit b) begangen hätten oder sich den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufende Handlungen (lit c) zuschulden kommen hätten lassen. Aufgrund der Schwere dieser Ausschluss- bzw. Aberkennungstatbestände könne nach dem Grundsatz der richtlinienkonformen Interpretation Art 17 Abs 1 lit d der Qualifikationsrichtlinie nur dahingehend verstanden werden, dass zur Verwirklichung dieser Bestimmung zumindest die Begehung einer Straftat von vergleichbarer Schwere wie die in lit a bis c genannten Handlungen vorliegen muss. Diese Sicht werde auch dadurch bestätigt, dass die Qualifikationsrichtlinie mitsamt dazu gehörigen Materialien auf die Genfer Flüchtlingskonvention Bezug nähmen. Aus der hierzu ergangenen Judikatur sowie Literatur ergäbe sich, dass eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit eines Landes nur dann gegeben sei, wenn die Existenz oder territoriale Integrität eines Staates gefährdet sei oder wenn besonders qualifizierte strafrechtliche Verstöße (z.B. Tötungsdelikte, Vergewaltigung, Drogenhandel, bewaffneter Raub) vorliegen würden.

Im Sinne der richtlinienkonformen Interpretation könne bei den vom Antragssteller begangenen Delikten – entgegen der Ansicht des Asylgerichtshofes – jedenfalls nicht von einer „Gefahr für die Allgemeinheit“ gemäß § 9 Abs 1 Z 2 Asylgesetz 2005 gesprochen werden. Daher habe der Asylgerichtshof die Rechtslage gehäuft verkannt und den Antragssteller in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt (und damit Willkür geübt).

Gegen die angewendete Bestimmung selbst hege der Verfassungsgerichtshof keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Outcome: 

Der Beschwerde wurde stattgegeben und das angefochtene Erkenntnis des Asylgerichtshofes aufgehoben.

Subsequent Proceedings : 

Der Asylgerichtshof gab der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesasylamts statt und behob diesen ersatzlos (vgl. AsylGH 24.02.2012, D3 301.752). Damit kam dem Antragssteller wieder der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

Observations/Comments: 

Bis 30.06.2008 war der Unabhängige Bundesasylsenat die in Asylsachen zuständige Rechtsmittelinstanz, ab 01.07.2008 der Asylgerichtshof (als Erklärung, dafür, warum der Antragstellerzunächst Beschwerde an den Unabhängigen Bundesasylsenat, später an den Asylgerichtshof erhob).

Der subsidiäre Schutz wird in Österreich jeweils für ein Jahr erteilt, subsidiär  Schutzberechtigte müssen jährlich um die Verlängerung des Status ansuchen. Liegt ein Aberkennungsgrund vor, wird der subsidiäre Schutz nicht verlängert, sondern aberkannt.

Wenn der subsidiäre Schutz aberkannt wird, die Abschiebung in das Herkunftsland jedoch eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2 oder 3 EMRK oder des 6. oder 13. Zusatzprotokolles zur EMRK bedeuten oder für die betroffene Person als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, dann ist die Abschiebung für unzulässig zu erklären. Diese Personen sind dann in Österreich „geduldet“ (im Sinne von § 46a Fremdenpolizeigesetz 2005).

Other sources cited: 

Zitierte Materialien zur Qualifikationsrichtlinie:

Europäische Kommission, 12.9.2001, KOM [2001], 510 endg.; Rat der Europäischen Union, 30.10.2002, 13623/02 ASILE 59

Zitierte Literatur:

Rohrböck, Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, Kommentar, 1999, Rz 453 ff.

Case Law Cited: 

VfSlg. 11.776/1988

VfSlg. 16.354/2001

VwGH, 27 April 2006, 2003/20/0050

VfGH, 5 October 2011, B1100/09

VfSlg. 16.737/2002

VfSlg. 15.354/1998

VfSlg. 18.362/2008

VfSlg. 14.391/1995

VfSlg. 19.251/2010

VfSlg. 16.273/2001

VfSlg. 14.776/1997

VfSlg. 10.065/1984

VfSlg. 18.614/2008

VfSlg. 16.297/2001

VfSlg. 13.785/1994

VfSlg. 15.451/1999

VfSlg. 16.314/2001

VfSlg. 14.393/1995

VfSlg. 16.214/2001

VfSlg. 17.026/2003

VfSlg. 16.080/2001

VfSlg. 14.650/1996

VfSlg. 13.836/1994

VfSlg. 18.257/2008

VfSlg 18.142/2007

VfSlg. 16.993/2003

VwGH, 10 October 1996, 95/20/0247