Österreich - Verfassungsgerichshof (VfGH), 27 September 2013, U701/2013

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
27-09-2013
Citation:
U701/2013
Court Name:
Verfassungsgerichshof (VfGH)
National / Other Legislative Provisions:
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 8
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 10
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 5
Austria - Asylgesetz (Asylum Act) 2005 - § 4
Austria - BVG über die Beseitigung rassischer Diskriminierung (Implementation of the International Convention on abolishment of all forms of racial discrimination) - Art I (1)
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Headnote: 

Die Regelung betreffend Drittstaatssicherheit, nach welcher Anträge auf internationalen Schutz bei drohender Verletzung von Art 8 EMRK nicht auf Grundlage der formalen Sicherheit in einem anderen Staat zurückgewiesen werden dürfen, ist analog auf die Dublin II-Verordnung anzuwenden. Hat der Antragsteller bereits subsidiären Schutz in einem anderen Mitgliedstaat, so darf der Antrag in jenem Staat, in dem sein minderjähriger asylberechtigter Sohn (nebst der schwangeren Ehegattin des Antragstellers) lebt, nicht nach der Dublin II-Verordnung zurückgewiesen werden. Vielmehr hat dieser Staat vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Facts: 

Der Antragsteller hatte seit dem Jahr 2009 in den Niederlanden den Status als subsidiär Schutzberechtigter. Im November 2012 stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er gab an, in Österreich leben zu wollen, da seine Frau – eine somalische Staatsangehörige mit Flüchtlingsstatus in Österreich – und der im Jahr 2011 geborene gemeinsame Sohn mit demselben Status, hier leben würden. Sie hätten traditionell geheiratet, seine Frau wäre zum zweiten Mal schwanger und benötige seine Unterstützung.

Im Rahmen des Konsultationsverfahrens erklärten sich die Niederlande gemäß Art 16 (2) Dublin II Verordnung dazu bereit, den Antragsteller wieder aufzunehmen. Das Bundesasylamt wies den Antrag wegen der Zuständigkeit zurück und erließ eine Ausweisungsentscheidung in die Niederlande.

Der Antragsteller erhob gegen diese Entscheidung Beschwerde. Der Asylgerichtshof wies die Beschwerde ab, erteilte jedoch aufgrund der Schwangerschaft der Partnerin einen Durchführungsaufschub. Begründend wurde ausgeführt, dass kein schützenswertes Privat- oder Familienleben vorliegen würde. Der Antragsteller hätte vor seiner Einreise nach Österreich nicht mit seiner Partnerin in einem gemeinsamen Haushalt gelebt und es lägen keine Hinweise auf längere gegenseitige Besuche vor, zumal er nicht in der Geburtsurkunde des ersten Sohnes als Vater eingetragen wäre. Der Antragsteller könne sich auch um die Führung eines gemeinsamen Familienlebens in den Niederlanden bemühen bzw. nach den niederlassungsrechtlichen Vorschriften in Österreich eine Familienzusammenführung anstreben. Im Hinblick auf Art 15 (2) Dublin II-Verordnung wurde festgehalten, dass dieser nicht anwendbar sei, da es keinerlei Hinweise auf eine Vulnerabilität gäbe: Die Lebensgefährtin erwarte lediglich ein Kind und es gäbe keine Hinweise auf eine Problemschwangerschaft.

Gegen dieses Erkenntnis richtete der Antragsteller eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. In dieser wurde unter anderem ausgeführt, dass die Regelung zur Drittstaatssicherheit des § 4 Asylgesetz und die dortigen Maßstäbe in Bezug auf die Unanwendbarkeit aufgrund familiärer Bindungen auf die Zurückweisung des Antrags gemäß § 5 Asylgesetz und der Dublin II-Verordnung analog anzuwenden sei. Österreich hätte Art 15 Dublin II -Verordnung anwenden müssen, da ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Eine unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen, die erst nach der Flucht geheiratet haben, sei sachlich nicht gerechtfertigt.

Decision & Reasoning: 

Ein Mitgliedstaat hat das Selbsteintrittsrecht auszuüben, wenn es andernfalls zu einer Verletzung von Grundrechten – so auch Art 8 EMRK – kommt.

Die Regelung zur Zurückweisung eines Asylantrags wegen Drittstaatssicherheit des § 4 Asylgesetz untersagt die Zurückweisung, wenn dem Ehegatten, dem eingetragenen Partner oder einem minderjährigen ledigen Kind des Asylwerbers in Österreich der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde.

Zur Vermeidung einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung ist jedoch dieses – dem Wortlaut nach nur für Fälle der Zurückweisung nach § 4 Asylgesetz geltende – Kriterium in verfassungskonformer Auslegung auch im Fall der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung nach § 5 Asylgesetz anzuwenden. Es ist nämlich keine sachliche Rechtfertigung für eine Differenzierung zwischen solchen Antragstellern, deren Asylantrag zurückgewiesen werden soll, weil ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-Verordnung zur Prüfung des Antrags zuständig ist, und solchen, die in einem (anderen) sicheren Drittstaat Schutz vor Verfolgung finden können, und deren in Österreich gestellter Antrag aus diesem Grund zurückgewiesen werden soll, ersichtlich.

Mit der Frage, ob der minderjährige Sohn tatsächlich das Kind des Antragstellers sei, hat sich der Asylgerichtshof nicht hinreichend auseinandergesetzt. Diese Information wäre jedoch für die Begründung seiner Entscheidung hinsichtlich der (gegebenenfalls gebotenen) Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art 3 (2) Dublin II-Verordnung wesentlich.

Der Antragsteller wurde somit in seinem Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.

Outcome: 

Der Beschwerde wurde stattgegeben und die angefochtene Entscheidung behoben.

Subsequent Proceedings : 

Der Asylgerichtshof hat am 14.11.2013 (AsylGH 14.11.2013, S6 432.058-1/2013/15E) entschieden, dass Österreich vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen muss, das Verfahren zugelassen und an das Bundesasylamt verwiesen, um ein inhaltliches Asylverfahren durchzuführen.

Observations/Comments: 

Behobene Entscheidung des Asylgerichtshofs: AsylGH 30.01.2013, S6 432.058-1/2013/2E

Ersatz-Erkenntnis des Asylgerichtshofs: AsylGH 14.11.2013, S6 432.058-1/2013/15E

Case Law Cited: 

ECtHR - GÜL v. Switzerland, Application No. 23218/94

Austria - Constitutional Court (VfGH), 07 June 2013, U 963/2012

Austria - Constitutional Court (VfSlg.) 19.264/2010

Austria - Constitutional Court (VfSlg.), 16.122/2001

Austria - Constitutional Court (VfGH), 24 February 2003, B1670/01

Austria - Administrative Court (VwGH), 25 January 2008, 2006/20/0624

ECtHR - Keegan v Ireland, Application no. 16969/90