Österreich – Verwaltungsgerichtshof, 31. März 2016, Ra 2015/20/0231

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
31-03-2016
Citation:
Ra 2015/20/0231
Court Name:
Verwaltungsgerichtshof
Relevant Legislative Provisions:
European Union Law > Treaty on the Functioning of the European Union 2010/C 83/01 > Article 267 § 1 (b)
European Union Law > Treaty on the Functioning of the European Union 2010/C 83/01 > Article 267 § 2
European Union Law > EN - Charter of Fundamental Rights of the European Union > Article 4
European Union Law > EN - Dublin II Regulation, Council Regulation (EC) No 343/2003 of 18 February 2003 > Article 10
European Union Law > EN - Dublin II Regulation, Council Regulation (EC) No 343/2003 of 18 February 2003 > Article 17
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Recital (19)
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 13
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 17
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 18
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 22
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 25
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 27
European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation) > Article 29
National / Other Legislative Provisions:
Austria – AsylG 2005 (Federal Act concerning the Granting of Asylum) - § 5
Austria – FPG (Aliens Police Act) - § 61 (1)
Austria – FPG (Aliens Police Act) - § 61 (2)
Austria – BFA-VG (Federal Act on the general rules for procedures at the federal office for immigration and asylum for the granting of international protection
the issuing of residence permits for extenuating circumstances reasons
deportation
tolerated stay and issuing of stay terminating measures
furthermore the issuing of documents for aliens) - § 17
Austria – BFA-VG (see above) - § 21 (3)
Austria – BFA-VG (see above) - § 21 (4)
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Headnote: 

Der Verwaltungsgerichtshof (VWGH) legte dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gem.  Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

1.) Sind die das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung vorsehenden Bestimmungen der Verordnung Nr. 604/2013[…], insbesondere Art. 27 Abs. 1, vor dem Hintergrund des 19. Erwägungsgrundes dahingehend auszulegen, dass ein Asylwerber den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 2 iVm. Art. 29 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013) geltend machen kann?

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

2.) Tritt der Zuständigkeitsübergang gemäß Artikel 29 Abs. 2 1. Satz der Verordnung Nr. 604/2013 alleine mit dem ungenutzten Ablauf der Überstellungsfrist ein oder erfordert ein Zuständigkeitsübergang wegen Fristablaufs auch die Ablehnung der Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch den zuständigen Mitgliedstaat?

Facts: 

Der Kläger, ein iranischer Staatsangehöriger, stellte am 7. März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Dieser wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 2. Juli 2015 als unzulässig abgewiesen. Begründet wurde dies mit der Zuständigkeit Bulgariens für die Prüfung des Antrages nach Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung), da der Kläger dort bereits am 19.Februar 2015 einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Das BVwG gab der Beschwerde am 20. Juli 2015 statt. Seiner Ansicht nach wäre aufgrund der gesundheitlichen Vulnerabilität des Klägers die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Dublin III-Verordnung zu prüfen gewesen.  Daher hob das BVwG den angefochtenen Beschied auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt zurück. Über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung entschied das Gericht hingegen nicht gesondert.

Daraufhin wies das Bundesamt den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 3. September 2015 und gleichlautender Begründung erneut als unzulässig zurück.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger wiederum Beschwerde beim BVwG ein und beantragte die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
In einer ergänzenden Stellungnahme führte der Kläger zur Begründung an, dass die Zuständigkeit für die Prüfung seines Antrages wegen Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist gem. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung mittlerweile auf Österreich übergegangen sei.  Die bulgarischen Behörden hätten dem Wiederaufnahmegesuchen am 23. März 2015 zugestimmt und das BVwG habe im ersten Verfahren der Beschwerde gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 2. Juli 2015 keine aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Das BVwG wies diese Beschwerde als unbegründet ab, da Bulgarien zumindest durch die ausdrückliche Bekundung der Zuständigkeit und damit durch dessen Selbsteintritt iSv.  Art. 17 Abs. 1 Dublin IIII-Verordnung für die Prüfung des Antrages zuständig geworden sei.
Ferner sei auch die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung noch nicht abgelaufen. Für den Fall der Ergreifung eines Rechtsmittels richte sich der Fristablauf auch nach dem Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat. Da nach der Behebung des angefochtenen Bescheides und der Zurückweisung der Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides bis zur neuerlichen Entscheidung der Betroffene nicht rücküberstellt werden könne, käme diesen aufschiebende Wirkung iSv. Art. 29 Abs. 1 iVm. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung zu.
Folglich habe die Frist nach der Entscheidung des BVwG vom 20. Juli 2015 an dem Zeitpunkt neu zu laufen begonnen, an dem die Überstellung des Betroffenen wieder möglich gewesen wäre, was nach den einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts der 24. September 2015 gewesen sei.

Gegen diese Entscheidung des BVwG erhob der Kläger außerordentliche Revision zum VWGH. Seiner Ansicht nach sei das BVwG fälschlich davon ausgegangen, dass die Überstellungsfrist vor dessen zweiter Entscheidung bereits abgelaufen war. Denn nach der einschlägigen Rechtsprechung des VWGH käme einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung an sich nicht automatisch aufschiebende Wirkung iSv. Art. 29 Abs. 1 iVm Art. 27 Abs. 3 Dublin III-Verordnung zu und somit sei die Frist auch nicht durch die Entscheidung des BVwG vom 20. Juli 2015 unterbrochen worden.

Decision & Reasoning: 

Der VWGH hielt eingangs zunächst fest, dass er nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt sei und die Entscheidung über die Revisionssache der Klärung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zur Auslegung des Unionsrechts bedürfe.

Die erste Vorlagefrage betreffe im Kern die Frage, ob ein etwaiger Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der Überstellungsfrist mit einem Rechtsmittel iSv Art. 27 Dublin III-Verordnung überhaupt geltend gemacht werden kann.
Denn ansonsten sei das Rechtsmittel bereits mangels einer geltend zu machen Rechtsverletzung unstatthaft und es bedürfe keiner Klärung mehr, ob die Überstellungsfrist abgelaufen war oder nicht.

Der VWGH verwies hierbei auf das Urteil des EuGH im Fall Abdullahi betreffend der Dublin II-Verordnung. In diesem Fall hatte der EuGH entschieden, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylwerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 Dublin II-Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat (erste Einreise in das Unionsgebiet), der Asylwerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.


Darauf basiere die Ansicht in der deutschsprachigen Rechtsprechung und Literatur, dass sich Asylwerber nicht auf den Ablauf einer Frist berufen könnten, weil die in der (jeweiligen) Dublin-Verordnung vorgesehenen Fristenregelungen als nur zwischen den Mitgliedstaaten wirkende Organisationsvorschriften keine subjektiven Rechte auf Prüfung eines Asylantrages durch einen bestimmten Mitgliedstaat begründen würden.

Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage, ob im Rahmen der Dublin III-Verordnung die das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel vorsehenden Bestimmungen dieser Verordnung, insbesondere deren Art. 27 Abs. 1, vor dem Hintergrund des 19. Erwägungsgrundes, dahingehend auszulegen sind, dass ein Asylwerber den Übergang der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung geltend machen kann.

Diese Frage unterscheide sich auch von den bereits beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsersuchen Ghezelbash (C-63/15) und Karim (C-155/15). Diese bezögen sich im Wesentlichen darauf, ob die ein wirksames Rechtsmittel betreffenden neuen Vorschriften der Dublin III-Verordnung dahingehend auszulegen seien, dass ein Asylbewerber der Heranziehung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien entgegentreten kann. Daher hielt der VWGH es nicht für ausgeschlossen, dass der EuGH bezüglich der Auslegung der in Kapitel VI Abschnitt VI normierten Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung zu einem anderen Ergebnis komme.

Falls die erste Frage bejaht wird, wäre darüber hinaus zu klären, ob alleine das ungenützte Verstreichen der Überstellungsfrist zum Zuständigkeitsübergang führt oder ob der in Artikel 29 Abs. 2 1. Satz der Dublin III-Verordnung enthaltene Passus „ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet“ so verstanden werden muss, dass die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz trotz Ablaufs der Überstellungsfrist beim zuständigen Staat verbleibt, wenn dieser Staat sich nicht auf das Erlöschen seiner Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person beruft oder die betreffende Person trotz Fristablaufs (wieder) aufnimmt.
Dabei wies der VWGH darauf hin, dass nicht geregelt sei, in welchem Verfahren bzw. in welcher Form der zuständige Mitgliedstaat das Erlöschen seiner Verpflichtung geltend zu machen hätte. 

Outcome: 

Der VWGH setzte das Verfahren aus und legte die oben aufgeführten Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. 

Observations/Comments: 

Der EuGH hat am 7. Juni 2016 in der Rechtssache Ghezelbash entschieden, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-Verordnung im Lichte von Erwägungsgrund 19 so auszulegen ist, dass ein Asylbewerber im Rahmen eines in Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien geltend machen kann (vgl. Ghezelbash, 7. Juni 2016, C- 63/15 Rn. 61).

Am selben Tag entschied der EuGH in Karim, dass ein Antragsteller im Rahmen eines in Art. 27 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung einen behördlichen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung geltend machen kann, wonach die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates erlischt und ein neues Dublinverfahren durchzuführen ist, wenn sie den Dublin-Raum für mindestens drei Monate verlassen haben (vgl. Karim, 7. Juni 2016, C-155/15 Rn. 27).

This case summary was written by Ann-Christin Bölter, an LLM graduate in Human Rights Law at Queen Mary's Univeristy. 

This case summary was proof read by Ana-Maria Bucataru, an LLM graduate in Human Rights Law at Queen Mary's Univeristy. 

 
Other sources cited: 

Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrensgesetz 1992 [Stand: November 2014] §27a Rn. 196.1 (Funke-Kaiser, Collective Commentary on the Asylum Procedures Act 1992 [November 2014] §27a Para. 196.1)

Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung [2014] Art. 27 K 8
(Filzwieser/Sprung, Dublin III-Regulation [2014] Art. 27 K 8)

Lübbe, Prinzipien der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung und Individualrechtsschutz im Dublin-System, ZAR 4/2015, 125
(Lübbe, Principles of the allocation of responsibility for protection and the protection of the individual in the Dublin system, ZAR 4/2015, 125) 

Case Law Cited: 

Germany – Federal Administrative Court, 27 October 2015, 1 C 31.14

CJEU - C-63/15 Mehrdad Ghezelbash v Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie