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Home ›Österreich – Verwaltungsgerichtshof, 08. September 2015, Ra 2015/18/0113
International Law > 1951 Refugee Convention
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European Union Law > EN - Dublin III Regulation, Council Regulation (EC) No. 604/2013 of 26 June 2013 (recast Dublin II Regulation)
Austria - §§ 42 II
47ff. VwGG
Die österreichischen Asylbehörden müssen jede drohende Verletzung von Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 GRCh) des Beschwerdeführers beachten. Diese kann auch in der Person des Beschwerdeführers begründet sein, setzt also nicht zwingend systemische Mängel im Aufnahmestaat voraus. Liegt eine solche Verletzung vor, ist eine Dublin-Überstellung unzulässig.
Hier: Eine alleinerziehende Mutter mit fünf minderjährigen Kindern ist besonders vulnerabel und darf nicht von Österreich nach Ungarn überstellt werden.
Die sieben Beschwerdeführer sind eine Familie aus Afghanistan bestehend aus einer alleinerziehenden Mutter mit ihren fünf minderjährigen Kindern sowie dem Ehemann der ältesten Tochter.
Sie reisten vom Iran kommend über die Türkei nach Griechenland und von dort aus über Mazedonien und Serbien illegal nach Ungarn ein. Dort stellten sie im September 2014 Asylanträge. Bevor über diese entschieden worden war, reisten sie weiter nach Österreich, wo sie im Oktober 2014 Anträge auf internationalen Schutz stellten.
Im März 2015 erklärte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ihre Anträge für unzulässig, da nach Art. 18 I lit. b Dublin-III-VO Ungarn zuständig sei. Das BFA ordnete daher die Überstellung der Beschwerdeführer nach Ungarn an. Ungarn stimmte der Übernahme der Beschwerdeführer zu.
Gegen die Entscheidung des BFA legten die Beschwerdeführer Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein. Ihre Beschwerde war nicht erfolgreich und wurde als unbegründet abgewiesen. In der Begründung verwies das BVwG darauf, dass keine besonderen Gründe bestünden, die für eine reale Gefahr fehlenden Verfolgungsschutzes in Ungarn sprechen würden. Insbesondere litten die Beschwerdeführer nicht unter einer lebensbedrohlichen Erkrankung (die Mutter machte allein Magenbeschwerden und eine Depression mittleren Grades geltend, es bestand aber keine Suizidgefahr). Zudem bestünden keine familiären oder sonstigen Bindungen der Beschwerdeführer nach Österreich. Die Kinder seien zwar minderjährig, aber keine Kleinkinder mehr, die besonders intensiver Pflege bedürften. Zur Lage in Ungarn stützte sich das BVwG auf Quellen aus der Zeit bis zum Sommer 2014 und berücksichtigte allein bezüglich der Haftbedingungen dort einen jüngeren Bericht von März 2015. Es stellte danach fest, dass Rücküberstellte in der Regel nicht in überfüllten Auffanglagern untergebracht würden, notwendige medizinische Versorgung gewährt werde und die Behandlung europäischen Standards entspreche. Außerdem verwies das BVwG darauf, dass der EGMR im Urteil Mohammadi/Österreich festgestellt habe, dass das ungarische Asylsystem keine systemischen Mängel aufweise. Die Überstellung nach Ungarn stelle somit keine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar. Österreich müsse daher nicht vom Selbsteintrittsrecht des Art. 17 I Dublin-III-VO Gebrauch machen.
Gegen die Entscheidung des BVwG erheben die Beschwerdeführer außerordentliche Revision zum VwGH. Sie begründen diese damit, dass sie aufgrund diverser Krankheiten eine besonders vulnerable Personengruppe darstellen. Außerdem seien Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, weil das BVwG von der ständigen Rechtsprechung des VwGH abweiche. Sie legen unter Verweis auf einen aktuellen EASO-Bericht dar, dass in Ungarn die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bestehe: Asylbewerber erhielten keine Verpflegung, keine Unterkunft, keine medizinische Versorgung, Dublin-Rückkehrer würden systematisch inhaftiert, was zudem eine Verletzung von Art. 6 GRCh begründe.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der VwGH stellt zunächst fest, dass die EMRK in Österreich Verfassungsrang hat. Daraus folgt, dass das AsylG 2005 grundrechtskonform interpretiert werden muss und insbesondere Art. 3 EMRK zu berücksichtigen ist. Bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschrift muss Österreich auf eine Dublin-Überstellung verzichten und das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 I Dublin-III-VO ausüben.
Die Sicherheitsvermutung des § 5 III AsylG 2005 stellt eine gesetzliche Beweisregel auf, wonach die anderen Dublin-Staaten als sicher gelten. Diese Vermutung ist aber widerlegbar, wenn besondere Gründe in der Person des Asylbewerbers bestehen, die für eine reale Gefahr fehlenden Schutzes vor Verfolgung im Aufnahmestaat sprechen.
Grundsätzlich müssen die Beschwerdeführer vorbringen und glaubhaft machen, dass solche besonderen Gründe vorliegen. Eine Ausnahme besteht allein bei „offenkundigen“ Gründen. Für eine Glaubhaftmachung nötig ist ein ausreichend konkretes Vorbringen des Beschwerdeführers. Im Rahmen der Glaubhaftmachung muss aber die besondere Situation von Asylbewerbern berücksichtigt werden, die häufig keine Möglichkeit zur Beweisherbeischaffung haben.
Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich eine Vermutung entnehmen, wonach die Behandlung von Asylbewerbern in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten in Einklang mit der GRCh, der GFK und der EMRK steht. Diese ist jedoch widerlegbar, wenn systemische Mängel im aufnehmenden Staat vorliegen, die eine Verletzung von Art. 4 GRCh begründen.
Unklar ist jedoch, ob allein systemische Mängel gegen eine Dublin-Überstellung vorgebracht werden können. Aus der Rechtsprechung des UK Supreme Courts und des EGMR im Fall Tarakhel folgt, dass der Grund für die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK (welcher Art. 4 GRCh entspricht) unerheblich ist, also auch individuelle Umstände der Person des Beschwerdeführers zu prüfen sind.
Hieraus folgert der VwGH, dass die österreichischen Asylbehörden jede mit realem Risiko („real risk“) drohende Verletzung von Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 GRCh) des Beschwerdeführers beachten müssen. Liegt eine solche vor, ist die Dublin-Überstellung unzulässig. Dies folgt aus dem absoluten Charakter von Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 GRCh) und den von Österreich übernommenen (grundrechtlichen) Verpflichtungen.
Im Urteil Mohammadi/Österreich entschied der EGMR, dass die Dublin-Überstellung eines alleinstehenden jungen Asylbewerbers nach Ungarn keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt. Dem Urteil lässt sich entnehmen, dass in Ungarn keine systematische Inhaftierung von Asylbewerbern mehr stattfindet und sich die Haftbedingungen verbessert haben.
Das BVwG hätte prüfen müssen, ob der vorliegende Fall mit dem des EGMR vergleichbar ist. Im vorliegenden Fall sind die Beschwerdeführer eine alleinerziehende Mutter und ihre minderjährigen Kinder. Als solche sind sie als besonders vulnerabel anzusehen und gehören damit zur Gruppe der (besonders) schutzbedürftigen Personen. Die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Krankheiten verstärken die Vulnerabilität, führen aber für sich betrachtet nicht zu einem Schweregrad, der ausreicht, um eine besondere Verletzlichkeit zu begründen.
Die vergangenen Erlebnisse der Beschwerdeführer in Ungarn dienen allein als einige von vielen Indizien für die Beurteilung der Frage, wie Asylbewerber dort behandelt werden. Entscheidend ist eine prognostische Beurteilung der Verhältnisse im Aufnahmestaat auf Grundlage einer Gesamtbeurteilung aktueller Berichte unter Berücksichtigung der individuellen Lage der betroffenen Personen. Das BVwG hat jedoch keine aktuellen Berichte herangezogen und die Lage der Beschwerdeführer nicht hinreichend berücksichtigt.
Beschwerde erfolgreich; Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung
Die Frage, ob gegen Dublin-Überstellungen allein systemische Mängel vorgebracht werden können, oder auch individuelle Umstände, die in der Person der Beschwerdeführer liegen, zu berücksichtigen sind, ist hochgradig umstritten. Die deutschen Verwaltungsgerichte nehmen unter Verweis auf die EuGH-Rechtsprechung allein in Fällen von systemischen Mängeln im aufnehmenden Staat – also nicht rein zufällig auftretenden Missständen im Asylsystem oder den Aufnahmebedingungen – eine Unzulässigkeit der Dublin-Überstellung an. Zur Gewährleistung eines umfassenden Menschenrechtsschutzes und unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR ist jedoch wie vorliegend der österreichische Verwaltungsgerichtshof davon auszugehen, dass auch in der Person des Beschwerdeführers liegende Gründe einer Dublin-Überstellung entgegenstehen können.
Diese Zusammenfassung wurde von Ass.-Jur. Lisa-Marie Lührs MLE geschrieben. Sie ist Doktorandin an der Universität zu Köln.
Zitierte Rechtsprechung des Mitgliedsstaats
Austria – VfGH, 15.10.2004, G 237/03
Austria – VwGH, 23.01.2007, 2006/01/0949
Austria – VwGH, 12.12.2007, 2006/19/1022
Austria – VwGH, 26.05.2009, 2006/20/0237
Austria – VwGH, 10.12.2009, 2008/19/0809
Austria – VwGH, 19.05.2010, 2008/23/0413
Austria – VwGH, 21.06.2010, 2008/19/0163
Zitierte Rechtsprechung anderer Mitgliedsstaaten
Vereinigtes Königreich - Supreme Court, 19.02.2014, R vs. Secretary of State for the Home Department (2014) UKSC 12
Deutschland – Bundesverwaltungsgerichtes, 19.03.2014, 10 B 6.14
Deutschland – Bundesverwaltungsgericht, 06.06.2014, 10 B 35.14
Deutschland – Bundesverwaltungsgericht, 14.07.2014, 1 B 9.14
Sonstige zitierte Quellen
Hailbronner/Thym, Vertrauen im europäischen Asylsystem, NVwZ 2012, 406ff.
Marx, Solidarität im grundrechtskonformen europäischen Asylsystem, NVwZ 2012, 409ff.
Bank/Hruschka, Die EuGH-Entscheidung zu Überstellungen nach Griechenland und ihre Folgen für Dublin-Verfahren (nicht nur) in Deutschland, ZAR 2012, 182ff.
Thym, Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Italien, ZAR 2013, 331ff.
Lübbe, "Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105ff.
Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR 2015, 81ff.