Schweiz – Bundesverwaltungsgericht, 8. Februar 2018, D-635/2018

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
08-02-2018
Citation:
D-635/2018
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
National / Other Legislative Provisions:
Switzerland – Section 29 BV (Federal Constitution)
Switzerland – Sections 31
32
33
37 VGG (Administrative Court Act)
Switzerland – Sections 3
5
6
6a
8
31a
105
106
108
111a AsylG (Asylum Act)
Switzerland – Sections 5
12
29
48
49
52
61
63
64 VwVG (Administrative Procedure Act)
Printer-friendly versionPrinter-friendly versionPDF versionPDF version
Headnote: 

Die Asylbehörden müssen bei Abschiebungen in Drittstaaten in jedem Einzelfall prüfen, ob dort effektiver Rechtsschutz gegen Rückschiebungen besteht und ob Abschiebungshindernisse vorliegen.

Im Fall einer türkischen Journalistin kurdischer Abstammung hat das SEM nur unzureichend geprüft, ob sie bei einer Rückschiebung nach Brasilien ausreichend rechtlich vor einer Abschiebung in die Türkei geschützt ist und deshalb ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.

Facts: 

Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Abstammung. Sie reiste im Januar 2018 über diverse Länder nach Brasilien und von dort aus in die Schweiz, um am Flughafen Zürich einen Asylantrag zu stellen. Die Einreise in die Schweiz wurde ihr vorläufig verweigert, sodass sie sich im Transitbereich des Flughafens aufhalten musste.

Bei der Befragung zur Person durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) gab sie zu ihren Asylgründen an, dass sie Journalistin sei und wegen ihrer Tätigkeit 2009 in der Türkei festgenommen und in Polizeigewahrsam gefoltert worden sei. Sie hätte zwei Jahre und drei Monate in Untersuchungshaft gesessen und sei schließlich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Am 23. Januar 2018 erließ das SEM einen sogenannten Nichteintretensentscheid, mit dem es die Behörde ablehnt, das Asylgesuch inhaltlich auf seine Begründetheit hin zu überprüfen. Begründet wurde dies damit, dass eine Rückschiebung der Beschwerdeführerin in den Drittstaat Brasilien zumutbar sei und sie dort einen Asylantrag stellen könne. Das Asylgesuch wurde folglich abgelehnt und die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus dem Transitbereich des Flughafens Zürich angeordnet. Im Fall der Zuwiderhandlung wurde eine Inhaftierung und zwangsweise Abschiebung nach Brasilien festgesetzt.

Am 30. Januar 2018 erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde zum BVerwG unter Beifügung des gegen sie ergangenen Urteils in türkischer Sprache, einer Kopie des Rechtshilfeabkommens („Agreement of mutual legal assistance in criminal matters“) zwischen der Türkei und Brasilien, diverser Schreiben journalistischer Organisationen, einem ärztlichen Attest, einem Bericht von Amnesty International sowie einer Asylstatistik zu Brasilien. Sie macht geltend, dass sie eine international bekannte kurdische Journalistin sei und in der Türkei zu Unrecht zu einer hohen Haftstrafe verurteilt wurde. Sie habe von Anfang an vorgehabt, in der Schweiz Asyl zu beantragen, da dort Freunde von ihr leben. In Brasilien sei sie nur wenige Tage auf der Durchreise gewesen. Als Frau sei dort ihre Sicherheit nicht gewährleistet, insbesondere sei sie sexueller Belästigung ausgesetzt gewesen. Es gebe in Brasilien kein funktionierendes Asylverfahren und Flüchtlinge seien auf sich allein gestellt. Es bestehe die Gefahr, dass sie von Brasilien aus über Georgien zurück in die Türkei abgeschoben werde. Sie macht eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör geltend, weil sich das SEM nicht ausreichend mit der Frage befasst habe, ob in Brasilien effektiver Rechtsschutz vor einer Abschiebung in die Türkei bestehe.

Decision & Reasoning: 

Das BVerwG untersucht in seinem Urteil allein die Frage, ob das SEM als Vorinstanz die inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs zu Recht abgelehnt hat, die Begründetheit des Asylgesuchs also nicht geprüft werden musste. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist dagegen die Frage, ob der Beschwerdeführerin vorläufig die Einreise in die Schweiz bewilligt werden kann.

Gemäß § 31a Abs. 1 Bst. c AsylG muss das SEM Asylgesuche grundsätzlich nicht inhaltlich prüfen, wenn die Asylsuchende in einen Drittstaat zurückkehren kann, in dem sie sich zuvor aufgehalten hat. Dies gilt ausnahmsweise nicht, wenn im betroffenen Drittstaat im Einzelfall kein effektiver Rechtsschutz im Sinne des § 5 Abs. 1 AsylG gegen zwangsweise Abschiebung in ein Land besteht, in dem Leib, Leben oder Freiheit der Beschwerdeführerin gefährdet sind.

In der Urteilsbegründung prüft das BVerwG, ob der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt wurde. Nach dem Untersuchungsgrundsatz obliegt es der Behörde, den Sachverhalt umfassend von Amts wegen aufzuklären und notwendige Beweise zu beschaffen. Die Beschwerdeführerin hat bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken.

Das Schweizer Recht unterscheidet zwischen Drittstaaten, die vom Bundesrat als sicher bezeichnet wurden und anderen Drittstaaten. Bei Brasilien handelt es sich um einen solchen „anderen Drittstaat“. Die Asylbehörden müssen bei Abschiebungen in diese Drittstaaten in jedem Einzelfall prüfen, ob dort effektiver Rechtsschutz gegen Rückschiebungen besteht und ob Abschiebungshindernisse vorliegen.

In seiner Verfügungsbegründung äußert sich das SEM nur rudimentär zum rechtlichen Schutz vor Rückschiebungen in Brasilien. Eine Einzelfallprüfung wird nicht vorgenommen, obwohl dies insbesondere aufgrund des besonderen politischen Profils der Beschwerdeführerin angebracht gewesen wäre.

Das BVerwG zieht Berichte über Brasilien der Heinrich Böll Stiftung, von UNHCR und Amnesty International heran, die Abschiebungen trotz Asylantrags und eine Überlastung des brasilianischen Asylsystems schildern. Diese Dokumente seien bei der Neubeurteilung des Falles vom SEM zu beachten.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das SEM unzureichend geprüft hat, ob im Drittstaat Brasilien effektiver Rechtsschutz vor Abschiebungen besteht. Es hat den Sachverhalt mangelhaft ermittelt, den Untersuchungsgrundsatz sowie seine Prüfungs- und Begründungspflichten verletzt. Daraus ergibt sich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin.

Outcome: 

Antrag stattgegeben; Aufhebung der Verfügung; Rückverweis an Vorinstanz.

Observations/Comments: 

Diese Zusammenfassung wurde von Ass.-Jur. Lisa-Marie Lührs MLE geschrieben. Sie ist Doktorandin an der Universität zu Köln.

Other sources cited: 

Camila Asano, Pétalla Timo, Heinrich Böll Foundation, “Das neue brasilianische Migrationsgesetz und die Menschenrechte” (The new Brazilian migration law and human rights), 3. July 2017, https://www.boell.de/de/2017/07/03/das-neue-brasilianische-mig-rationsgesetz-und-die-menschenrechte

UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Submission by the United Nations High Commissioner for Refugees; For the Office of the High Commissioner for Human Rights' Compilation Report; Universal Periodic Review: 3rd Cycle, 27th Session; Brazil, 09.2016, http://www.refworld.org/docid/59197d644.html

Amnesty International, Annual Report 2016/2017 – Brazil, 22.02.2017, https://www.amnesty.org/en/countries/ americas/brazil/report-brazil/