Deutschland - Bundesverwaltungsgericht, 27. April 2010, 10 C 5.09

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
27-04-2010
Citation:
10 C 5.09
Additional Citation:
asyl.net/M17253
Court Name:
Federal Administrative Court
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Headnote: 

Sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch bei der Entscheidung über den subsidiären Schutzes ist die Beweiserleichterung des Art. 4 (4) Qualifikationsrichtlinie anwendbar. Der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist, hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr. Bei konkreter Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung gilt das Abschiebungsverbot des § 60 (2) Aufenthaltsgesetz uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der EMRK.

Facts: 

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er beantragte im November 2004 Asyl mit der Begründung, er habe sich am bewaffneten Kampf der PKK beteiligt. Im Juni 1991 sei er festgenommen und einen Monat lang von türkischen Sicherheitskräften unter Folter verhört worden. Nach seiner Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe von zwölfeinhalb Jahren sei er im Dezember 2000 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Anschließend habe er sich zunächst erneut der PKK angeschlossen, die Organisation aber im Juli 2004 verlassen, weil er an ihrer politischen Linie zweifelte. In der Türkei sei er trotz des Reuegesetzes für ehemalige PKK-Mitglieder gefährdet gewesen, da er keine Militärdienst abgeleistet habe und deswegen gesucht worden sei. Zudem hätten die Sicherheitskräfte erfahren, dass er sich nach der Haftentlassung wieder der PKK angeschlossen hatte.

Die deutschen Behörden lehnten den Asylantrag im Juli 2005 als „offensichtlich unbegründet“ ab, da der Kläger eine schwere nichtpolitische Straftat begangen und den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider gehandelt habe.

Mit Urteil vom 22.11.2005 hat das VG das BAMF zur Flüchtlingsanerkennung des Klägers verpflichtet. Mit Urteil vom 21.10.2008 hat der VGH Bayern das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen, mit der Begründung, dass die terroristischen Taten der PKK als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzusehen seien, schwere nichtpolitische Straftaten darstellen und im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen würden. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor, die Todesstrafe sei in der Türkei abgeschafft und trotz der erlittenen Folter im Juni 1991 greife die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht, da nach den vorliegenden Erkenntnissen stichhaltige Gründe gegen eine Foltergefahr in regulärer Strafhaft sprechen würden.

Die Revision wurde vom VGH Bayern hinsichtlich eines Abschiebungsverbots gem. § 60 (2) Aufenthaltsgesetz (Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung) zugelassen.

Decision & Reasoning: 

Der Verwaltungsgerichtshof hat Bundesrecht verletzt. Bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 (2) Aufenthaltsgesetz hat der Verwaltungsgerichtshof diejenigen erniedrigenden Behandlungsmaßnahmen unberücksichtigt gelassen, die keine irreparablen oder sonst schweren körperlichen und seelischen Folgen hinterlassen.

Die Vorschriften zum subsidiären Schutz des Art. 15 Qualifikationsrichtlinie sind im deutschen Recht als absolute Abschiebungshindernisse umgesetzt worden. Die in Art. 17 QRL geregelten Ausschlussgründe greifen nach nationalem Recht gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erst auf einer nachgelagerten Ebene als Versagungsgründe für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

Sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines Vorverfolgten als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes bei bereits erlittenem ernsthaften Schaden gilt die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL und nicht (mehr) der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 QRL begründet eine widerlegbare tatsächliche Vermutung für Schutzsuchende dafür, dass sie erneut bedroht sind, wenn sie Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden erlitten haben.

Nach der bisherigen deutschen Asylrechtsprechung galt eine Nachweiserleichterung für Personen, die bereits Verfolgung erlitten hatten, nur im Bereich des Asyls und des Flüchtlingsschutzes, nicht aber für Abschiebungshindernisse (anderweitige Schutzformen). Durch Art. 4 (4) Qualifikationsrichtline wird der Anwendungsbereich auf alle Tatbestände des unionsrechtlich geregelten subsidiären Schutzes ausgeweitet. Der anzuwendende Wahrscheinlichkeitsmaßstab gemäß Art. 2 (e) Qualifikationsrichtline richtet sich nach der Rechtsprechung des EGMR zur „tatsächlichen Gefahr“ ("real risk") im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK. Der Maßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Mit Art. 4 Abs. 4 QRL entfällt die Notwendigkeit, dass der Schutzsuchende stichhaltige Gründe dafür darlegen muss, dass sich frühere Verfolgung oder früherer ernsthafter Schaden wiederholen werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hätte bei der Verfolgungsprognose auch erniedrigende Behandlungsmaßnahmen im Sinne des Art. 3 EMRK, die keine irreparablen oder sonst schweren Folgen hinterlassen, prüfen müssen. Der Verwaltungsgerichtshof verweist insoweit darauf, dass die Türkei Signartarstaat der EMRK sei und der Kläger im Falle von Konventionsverletzungen seine Rechte von der Türkei aus selbst verfolgen könne. Dies verletzt Bundesrecht, denn die Auslegung des § 60 Abs. 2 AufenthG hat sich an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK zu orientieren. Der EGMR betont in ständiger Rechtsprechung den absoluten und ausnahmslosen Schutz von Art. 3 EMRK. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 2 AufenthG gilt somit uneingeschränkt auch bei der Abschiebung in einen Signatarstaat der EMRK.

Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL widerlegt ist, kann das Berufungsgericht allerdings der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose enspricht ständiger Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und ist auch durch Art. 7 Abs. 2 QRL mit dem darin enthaltenen Kriterium ausreichender Schutzgewährleistung abgedeckt.

Allerdings kann der Tatsache, dass die Türkei Vertragsstaat der EMRK ist, bei der Prüfung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL widerlegt ist oder nicht, Bedeutung zukommen. Die Berücksichtigung dieses Umstands im Rahmen der Prognose enspricht sowohl ständiger Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK als auch Art. 7 Abs. 2 QRL.

Outcome: 

Aufhebung des Urteils des VGH Bayern vom 21.10.2008 hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG und Zurückverweisung zur anderweitigen Verhandlung.

Case Law Cited: 

ECtHR - Dragan & others v Germany (2004) Application no. 33743/03)

ECtHR - Kaplan v Germany (2009) Application no. 43212/05)

Germany - Federal Administrative Court, 18 April 1996, 9 C 77.95

Germany - Federal Administrative Court, 7 February 2008, 10 C 33.07