Deutschland - Bundesverwaltungsgericht, 24. Juni 2008, 10 C 43.07

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
24-06-2008
Citation:
10 C 43.07
Additional Citation:
asyl.net/ M13877
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
National / Other Legislative Provisions:
Fourth Geneva Convention 1949
Fourth Geneva Convention 1949 - Art 3
Additional Protocol II 1977
Additional Protocol II 1977 - Art 1(1)
Printer-friendly versionPrinter-friendly versionPDF versionPDF version
Headnote: 

Zu Maßstäben für die Definition des Begriffs “innerstaatlicher bewaffneter Konflikt” im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie:

  1. Der Begriff “internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt” nach Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen, insbesondere der vier Genfer Konventionen zum internationalen Völkerrecht vom 12. August 1949 und der Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977.
  2. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie muss sich nicht notwendigerweise auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken.
  3. Eine Prüfung der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes gemäß Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie wird nicht dadurch gesperrt, dass die Behörden Abschiebungen allgemein ausgesetzt haben.
Facts: 

Die Kläger sind ein Ehepaar aus dem Irak und kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie beantragten in den Jahren 1996 bzw. 1999 getrennt voneinander Asyl in Deutschland, und ihnen wurde 1996 bzw. 2001 der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Im April 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Flüchtlingsstatus beider Kläger, da die Umstände, die zur Zuerkennung des Status geführt hatten, zwischenzeitlich weggefallen seien. Darüber hinaus stellte das Bundesamt fest, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 (2) bis (7) Aufenthaltsgesetz nicht vorliegen.

Das Verwaltungsgericht München hob den Widerruf des Flüchtlingsstatus im August 2005 auf. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hob widerum am 1. Februar 2007 die Entscheidung der unteren Instanz auf und bestätigte die Widerrufsentscheidung des Bundesamtes (zu den Gründen dieser Entscheidung s.u.). Der Verwaltungsgerichtshof ließ die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu.

Decision & Reasoning: 

1) Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie wurde im deutschen Recht als Abschiebungsverbot im § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz umgesetzt. Trotz geringfügig abweichender Formulierung entspricht die Bestimmung den Vorgaben des Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie.

Mit Blick auf die Lage im Irak hat der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie mit der Begründung verneint, dass kein landesweiter Konflikt im Irak bestehe. Damit hat er zu hohe Anforderungen an das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts gestellt.

Der Begriff des internationalen wie auch des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts auszulegen, d.h. insbesondere die vier Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht vom 12. August 1949. Darüber hinaus erfährt der Begriff des “innerstaatlichen bewaffneten Konflikts” eine Präzisierung durch Art. 1 des Zusatzprotokolls II vom 8. Juni 1977. Nach Art. 1 Nr. 1 des Zusatzprotokolls II findet ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des Völkerrechts statt unter Beteiligung von “abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen [...], die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen.” Im Gegensatz dazu schließt Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls II Situationen “innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen” von der Definition eines bewaffneten Konflikts aus.

Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss hierfür aber ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen. Typische Beispiele sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Ob die Konfliktparteien einen so hohen Organisationsgrad erreichen müssen, wie er für die Erfüllung der Verpflichtungen nach den Genfer Konventionen von 1949 erforderlich ist, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Die Orientierung an den Kriterien des humanitären Völkerrechts findet ihre Grenze jedenfalls dort, wo ihr der Zweck der Schutzgewährung für in Drittstaaten Zuflucht Suchende nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie widerspricht. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch ein sog. "low intensity war" die Qualität eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie erfüllt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem angefochtenen Urteil zu Unrecht eine landesweite Konfliktsituation als Voraussetzung für die Schutzgewährung nach Art. 15 Buchst. c der Richtlinie verlangt. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt demgegenüber auch dann vor, wenn die oben genannten Voraussetzungen nur in einem Teil des Staatsgebiets erfüllt sind. Entsprechend geht auch das Gesetz davon aus, dass bei der Bestimmung eines Abschiebungsverbots nach § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz eine interne Schutzalternative gelten kann. Damit wird deutlich, dass sich ein innerstaatlicher Konflikt nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken muss. Auch nach Art. 1 des Zusatzprotokolls II genügt es, dass die bewaffneten Gruppen Aktivitäten in einem "Teil des Hoheitsgebiets" durchführen.

2) Der Verwaltungsgerichtshof hat ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 (7) Satz 2 Aufenthaltsgesetz auch deshalb verneint, dass die Kläger internen Schutz in anderen Landesteilen des Iraks hätten finden können. Diese Begründung ist ebenfalls nicht mit Bundesrecht vereinbar, weil sie auf zu schmaler Tatsachengrundlage getroffen wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat schon keine Feststellungen dazu getroffen, welche Regionen des Irak für eine interne Schutzalternative in Frage kämen. Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof auch keinerlei Feststellungen dazu getroffen, ob den Klägern ein Ausweichen in andere Landesteile des Irak aufgrund der dortigen allgemeinen Gegebenheiten und der persönlichen Umstände der Kläger zumutbar ist.

3) Der Verwaltungsgerichtshof hat weiterhin festgestellt, dass subsidiärer Schutz gemäß Qualifikationsrichtlinie deswegen nicht gewährt werden könnte, weil das Bayerische Innenministerium Abschiebungen irakischer Staatsangehöriger seit dem Jahr 2003 grundsätzlich ausgesetzt hat. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs bietet die bayerische Erlasslage “die bei allgemeinen mit einem bewaffneten Konflikt in Zusammenhang stehenden Gefahren vergleichbaren Schutz”, weshalb eine Prüfung der Voraussetzungen subsidiären Schutzes durch § 60 (7) Satz 3 Aufenthaltsgesetz augeschlossen werde.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt sind, im Rahmen von Anordnungen der obersten Landesbehörden zu berücksichtigen, mit denen die Abschiebung von Ausländern für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt wird. Richtlinienkonform ist diese Vorschrift aber dahingehend auszulegen, dass sie nicht die Fälle erfasst, in denen die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind. Dies ergibt sich aus Art. 24 (2) Qualifikationsrichtlinie, wonach ein Ausländer, der die Voraussetzungen des Art. 15 (c) der Richtlinie erfüllt, grundsätzlich Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat. Dagegen wird bei der Aussetzung der Abschiebung durch die obersten Landesbehörden lediglich eine Duldung erteilt. Es widerspräche den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie, wenn einem Ausländer, der Anspruch auf subsidiären Schutz gemäß Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie hat, nur eine Duldung und kein Aufenthaltstitel erteilt würde. Von der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 15 (c) darf daher auch dann nicht abgesehen werden, wenn Abschiebungen generell ausgesetzt wurden.

Da das Berufungsurteil keine ausreichenden Feststellungen zu den Voraussetzungen des Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie enthält, ist das Verfahren zurückzuverweisen. Kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass im Irak landesweit oder regional, etwa in der Herkunftsregion der Kläger, ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt besteht, wird es weiter zu prüfen haben, ob dieser Konflikt eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben der Kläger als Angehörige der Zivilbevölkerung begründet. Die Tatbestandsvoraussetzungen einer solchen erheblichen individuellen Gefahr entsprechen denen einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit" im Sinne von Art. 15 (c) der Richtlinie. Hierbei ist zu prüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende - und damit allgemeine - Gefahr in der Person der Kläger so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr darstellt. Nach Auffassung des Senats kann sich auch eine allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt ausgeht, individuell verdichten und damit die Voraussetzungen des Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie erfüllen. Die genauen Voraussetzungen hierfür müssten vom  Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geklärt werden (vgl. das anhängige Vorlageverfahren des niederländischen Raad van State, C-465/97).

Bei der Prüfung, ob die Kläger eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben zu befürchten haben, wird der Verwaltungsgerichtshof auch zu berücksichtigen haben, dass den Klägern infolge von "willkürlicher Gewalt" Gefahr drohen muss. Dieses Erfordernis des Art. 15 (c) ist zwar nicht ausdrücklich in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG aufgenommen worden. Die Begründung des Regierungsentwurfs zum Aufenthaltsgesetz verweist aber darauf, dass die Vorschrift auf Art. 15 (c) Qualfikationsrichtlinie aufbaut. Welchen Inhalt das Kriterium der “willkürlichen Gewalt” hat, ist eine gemeinschaftsrechtliche Zweifelsfrage, die letztlich durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geklärt werden muss. Sollte der Verwaltungsgericht zu der Ansicht gelangen, dass eine Klärung dieser Zweifelsfrage entscheidungserheblich ist, wird er die Revision zulassen müssen, um den Weg für eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Vorabentscheidungsverfahren zu eröffnen.

Outcome: 

Das Verfahren wird an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Subsequent Proceedings : 

Unbekannt.

Observations/Comments: 

An English Translation (commissioned by the Federal Administrative Court, but not officially authorised) is available at:
http://www.bverwg.de/enid/3e5b820bde28769825439f3abdbb540c,0/Decisions_i...

Other sources cited: 

Reinhard Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung – Qualifikationsrichtlinie, 2006.

Wolfgang Graf Vitzhum, ed. Völkerrecht, 4th ed. 2007.

Case Law Cited: 

Germany - High Administrative Court Schleswig-Holstein, 21 November 2007, 2 LB 38/07

ICTY - Prosecutor v Haradinaj et al. (No. IT-04-84-T)

UK - KH (Iraq) CG [2008] UKIAT 00023