Deutschland - Bundesverwaltungsgericht, 14. Juli 2009, 10 C 9.08

Country of Decision:
Country of Applicant:
Date of Decision:
14-07-2009
Citation:
10 C 9.08
Additional Citation:
asyl.net/M16130
Court Name:
Bundesverwaltungsgericht
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Headnote: 

Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben kann sich aus einer allgemeinen Gefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der betroffenen Person verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich aus individuellen gefahrerhöhenden Umständen ergeben oder aus einer außergewöhnlichen Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Facts: 

Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und Sunnite. Es stellte im Jahr 2001 in Deutschland einen Asylantrag. Im Dezember 2001 sprachen die Behörden ihm den Flüchtlingsstatus zu. Nach dem Sturz des Regimes Saddam Husseins wurde der Flüchtlingsstatus wegen der Änderung der Umstände im Irak widerrufen. Die Behörden entschieden außerdem, dass kein sonstiger Schutz zu gewähren sei.

Das Verwaltungsgericht Sigmaringen hob den Widerrufsbescheid im März 2006 auf, aber dieses Urteil wurde wiederum vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg aufgehoben (Entscheidung vom 25.6.2007 – VGH A 2 S 863/06). Der Verwaltungsgerichtshof bestätigte die Widerrufsentscheidung, da der Kläger aufgrund der Änderugn der Umstände im Irak keine begründete Furcht for politischer Verfolgung mehr geltend machen könne. Auch sonstiger Schutz sei nicht zu gewähren, da der Kläger selbst nur auf die anhaltende allgemeine Gefahrenlage im Irak hingewiesen habe. Gegen diese allgemeine Gefahr bestünde ausreichender Schutz durch die vorübergehende Aussetzung von Abschiebungen, die das Land Baden-Württemberg durch Weisungen verfügt habe. Insbesondere könne kein subsidiärer Schutz im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie gewährt werden. Zwar könne der Konflikt im Zentral-Irak, insbesondere der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, als teilweise bürgerkriegsähnliche Situation bezeichnet werden und könnte entsprechend das Kriterium eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erfüllen. Aber die Gefahren, die im Rahmen dieses bewaffneten Konflikts entstehen, gelten für die gesamte Bevölkerung und stellten entsprechend eine allgemeine Gefahr dar. Eine individuelle Gefahr setze dagegen eine Gefahrensituation voraus, die eine besondere und konkrete Bedrohung der betroffenen Person darstelle. Dies könne für Angehörige politischer Parteien, Journalisten oder für die intellektuelle Elite der Fall sein. 

Das Bundesverwaltungsgericht ließ die Revision im Hinblick auf die Abschiebungsverbote gemäß § 60 (2) bis (7) Aufenthaltsgesetz zu.

Decision & Reasoning: 

Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs zu den Voraussetzungen des subsidiären Schutzes gem. § 60 (2) Satz 2 Aufenthaltsgesetz sind rechtsfehlerhaft.

Ungeachtet kleinerer Abweichungen in den Formulierungen, ist die Vorschrift des § 60 (2) Satz 2 Aufenthaltsgesetz identisch mit der des Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass allgemeine Gefahren keine individuelle Gefahr im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie darstellen können, falls nicht individuelle gefahrerhöhende Umstände hinzukommen. Dagegen hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 24. Juni 2008 (10 C 43.07) festgestellt, dass sich eine allgemeine Gefahr, der der Großteil der Zivilbevölkerung ausgesetzt ist, in einer einzelnen Person verdichten kann und damit eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinne von Art. 15 (c) Qualifikationsrichtlinie darstellen kann. Dabei hat der Senat darauf verwiesen, dass die genauen Voraussetzungen durch den Europäischen Gerichtshof geklärt werden müssten. In der Zwischenzeit hat der Europäische Gerichtshof diese Frage in seiner Entscheidung Elgafaji vom 17. Februar 2009 geklärt.

Die Schlussfolgerungen des Europäischen Gerichtshofs sind im Wesentlichen identisch mit denen des Senats: In der Elgafaji-Entscheidung stellt der Europäische Gerichtshof fest, dass der Begriff “individuell” dahingehend zu verstehen sei, dass er sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein. Dies entspricht der Sache nach der vom Senat für erforderlich gehaltenen individuellen Verdichtung der allgemeinen Gefahr. Der Europäische Gerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht stimmen also überein, dass sich die Individualisierung er allgemeinen Gefahr aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben kann. Sie kann aber ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Da die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang stehen, ist das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Der Verwaltungsgerichtshof wird zu prüfen haben, ob für den Kläger im Irak oder in Teilen des Irak eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts besteht. Der innerstaatliche bewaffnete Konflikt muss sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit der beschriebenen Gefahrendichte nicht landesweit, kommt eine individuelle Bedrohung allerdings in der Regel nur in Betracht, wenn der Konflikt sich auf die Herkunftsregion des Klägers erstreckt, in die er typischerweise zurückkehren wird.

Ergibt sich, dass in der für ihn maßgeblichen Region eine individuelle Bedrohung des Klägers wegen eines außergewöhnlich hohen Niveaus allgemeiner Gefahren im Rahmen eines bewaffneten Konflikts anzunehmen ist, ist weiter zu prüfen, ob der Kläger in anderen Teilen des Irak, in denen derartige Gefahren nicht bestehen, internen Schutz gemäß Art. 8 der Richtlinie finden kann.

Outcome: 

Zurückverweisung an den Verwaltunsgerichtshof.

Subsequent Proceedings : 

Unbekannt.

Observations/Comments: 

An English Translation (commissioned by the Federal Administrative Court, but not officially authorised) is available at:
http://www.bverwg.de/enid/90a215d0e466020f4d39a3fca8a475e6,0/Decisions_i...